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Das Abenteuer der „Gründerzeit“

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Wien im Dezember 1945 war eine eigentümliche Stadt, voll an Gegensätzen und Problemen. Wenige Wochen erst waren :es nach dem Einmarsch der westalliierten Truppen in ihre Besatzungszonen. Die Stadt war noch zermartert von den entsetzlichen Hungermonaten August und September und doch schon voll von lebendigem Willen zur Selbstbehauptung in der neuen Situation einer Viermächtebesetzung. Die neue Herrschaft war streng abgezirkelt nach den Zonengrenzen und tief mißtrauisch gegenüber den ersten Regungen österreichischer Publizistik und geistiger Betätigung.

Die Gründung der „Furche“, als einer wegweisenden, überparteilichen Zeitschrift inmitten des Chaos wurde durch eine unvorstellbare mühsame Kleinarbeit aller beteiligten Herren des ersten Redaktionsteams unter der Führung Doktor Funders allmählich Wirklichkeit. Oft fanden wir uns in den engen Räumen der ersten Redaktion im Hause Strozzigasse 8 zu Vorberatungen zusammen, um die Planungen für die Zukunft festzulegen. Jede Zusammenkunft war ein Abenteuer, denn es gab weder Verkehrsmittel im heutigen Sinne, noch konnte man garantieren, daß nicht einer der Beteiligten infolge der ständigen Hungerattacken ausfiel oder

von irgendeiner freundlichen Patrouille der Besatzungsmächte beim Durchqueren der einzelnen Zonen aufgehalten wurde. Das Fahrrad war für die meisten, die sich noch glücklich schätzten, ein solches Vehikel gerettet zu haben, ungefähr der gleiche Komfort wie heute ein Auto. Trotzdem sprühten die Debatten von Ideen, und alle, die sich damals um den Herausgeber der „Furche“ versammelten, versuchten ihr Bestes zu geben.

Der viel zu früh verstorbene unvergeßliche Dr. Mika hatte schon in den Oktobertagen des Jahres 1945 ein umfassendes Programm für die kommenden Nummern ausgearbeitet. Mir fiel die Aufgabe zu, die Themen der jüngsten Vergangenheit, vor allem die geschichtlichen Ereignisse des zweiten Weltkrieges, zu bearbeiten und dazu möglichst auch die Quellen und Darstellungen der verschiedenen Pressedienste der Besatzungsmächte heranzuziehen. Dort lagen ja Zeitungen und Zeitschriften, die wir jahrelang nicht gekannt hatten, Publikationen, deren Existenz nur durch die verschiedenen Kommentare der Kriegszeit zu unserer Kenntnis gelangt waren. Die Aufgabe war wohl verlockend, aber auch sehr schwierig. Sollten die ersten Nummern der „Furche“ auch in dieser Richtung erstklassiges Material bieten, so war es notwendig, an die Quellen heranzukommen. Es war ein wahres Abenteuer des Geistes, hier Kontakte zu finden mit jenen Stellen, die bereit waren, einer neugegründeten österreichischen Zeitschrift auch zu helfen. Für die verschiedenen Dienststellen der Alliierten galt, wenn auch formell aufgehoben, noch die strenge Schranke des Fraterni-sierungsverbotes, und mancher Versuch einer Aufnahme von Verbindungen mit Offizieren in prunkvoller Uniform war vergeblich, bis das sprichwörtliche Glück des Oesterreichers mithalf. Der Auftrag war also gegeben, Material zur Zeitgeschichte zu sammeln, die Durchführung blieb mir überlassen. Ein Gespräch mit einem amerikanischen Offizier, der sich später als wahrer Freund Oesterreichs erwies, in einem kleinen Photogeschäft, wobei die Englischkenntnisse der Mittelschule (ich habe dabei meines im zweiten Weltkrieg verstorbenen Englischlehrers in wirklicher Dankbarkeit gedacht) einen Anhaltspunkt boten. Ein erstes Zusammensein im Pressehauptquartier, einem besetzten Hotel des 8. Bezirkes, war noch von gegenseitiger Reserviertheit bestimmt, aber bald konnte ich Verständnis finden. Was vom Schreibtisch des amerikanischen Kapitäns abfiel, unzählige Ausschnitte, bot wertvollstes Material, und in kurzer Zeit wurden uns die ersten Taschenbuchausgaben von Memoirenwerken und historischen Betrachtungen zum zweiten Weltkrieg übergeben; die Arbeit konnte beginnen. In den nächtlichen Straßen sauste man auf dem Fahrrad mit den erjagten Unterlagen in die ungeheizte Wohnung, wo die Auswertung begann und die Artikel entstanden.

War es nicht ein Symbol für die verwirrte

Zeit, daß Sumner Welles Erinnerungen über seine Friedensgespräche aus dem Jahre 1940 die erste Serie dieser Betrachtungen einleitete, um bald darauf in einer biographischen Beleuchtung der Persönlichkeit Eisen-h o w e r s eine Fortsetzung zu finden? Als Pressematerial über den Neuaufbau des amerikanischen Auswärtigen Dienstes einlangte, entstand eine Arbeit, die bei einer ausländischen diplomatischen Korrespondenz sogar beträchtliches Aufsehen erregte.

Was an Mühe aufgewendet wurde, läßt sich heute nach zehn Jahren kaum mehr aufzählen. Die Schwierigkeit der Beschaffung des Schreibpapiers, der nötigsten Behelfe, die werktätige Unterstützung unseres immer größer werdenden Freundeskreises aus den verschiedenen Dienststellen der Besatzungsmächte, denen wir nicht mehr zu bieten hatten als eine gelegentliche Aussprache über Oesterreich, seine Geschichte und seine Stellung in Europa in der Vergangenheit und Gegenwart. Noch war nicht die Zeit der rauschenden Cocktail-Parties angebrochen, bei denen sich so leicht und unbekümmert plaudern läßt. Aber wer möchte aus diesen Anfangsschritten unserer „Furche“ gerade die ersten Arbeitsmonate aus seinem Gedächtnis verbannen? Bei diesem Gedenken wollen wir diejenigen nicht ausschließen, die, ob in Uniform oder in Zivil, uns damals für vertrauenswürdig hielten, obwohl wir in abgerissenem Räuberzivil, auf Fahrrädern, mit hungrigen Augen ihre Hilfe in Anspruch nahmen. Als im Frühjahr 1946 die ersten Nummern der „Furche“ bereits ein Begriff geworden waren, erwies sich, daß das gemeinsame Werk Bestand haben würde.

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