Geschichte als "Mehrfach-Parallelaktion"

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"Das Buch bezieht seinen Reiz und seine Spannung aus der 'journalistischen' Herangehensweise des Autors. Jelinek versteht es, Geschichte(n) zu erzählen."

Schon die Kombination von Titel und Untertitel mutet gespenstisch, beklemmend an: "Es gab nie einen schöneren März" - "1938. Dreißig Tage bis zum Untergang". Das Surreale, Aberwitzige dieser Zeit ist förmlich mit Händen zu greifen. Das titelgebende Zitat stammt von Johannes Oesterreicher (1904-1993), einem österreichischen katholischen Priester jüdischer Abstammung (und Pionier des jüdisch-christlichen Dialogs, der maßgeblich am einschlägigen Artikel der Konzilserklärung "Nostra aetate" beteiligt war). Es bezieht sich schlicht auf das Wetter -der März 1938 war dem Buchautor zufolge tatsächlich überdurchschnittlich schön und warm - und fiel 1987 gegenüber Wiener Journalisten in New Jersey, wohin Oesterreicher nach seiner Flucht 1938 über Paris und New York gelangt war.

Die "dreißig Tage bis zum Untergang" umfassen den Zeitraum von Freitag, dem 11. Februar bis Samstag, dem 12. März 1938 -jedem Tag ist ein Kapitel gewidmet (dem der je aktuelle Wetterbericht vorangestellt ist). Gerhard Jelinek beschreibt entlang dieser Tage das Scheitern einer "Republik wider Willen":"Österreich entsteht auf dem Territorium, das von keinem anderen Nachfolgestaat der Monarchie beansprucht wird. Es ist buchstäblich der 'Rest' eines mitteleuropäischen Imperiums."

Jelinek schneidet dabei Anekdotisches, Chronikales mit den politischen und diplomatischen Entwicklungen gegen. Dabei hat er in offenbar unermüdlicher Recherchearbeit eine Vielzahl an Geschichten zusammengetragen, die wohl auch dem historisch kundigen Leser so manche Neuigkeit bieten. Man mag sich dabei in Einzelheiten verlieren -was auch der Gliederung nach Tagen geschuldet sein dürfte. Der große Bogen tritt bisweilen gegenüber dem vielschichtigen und detailreichen Bild dieser Tage in den Hintergrund. Gleichzeitig bezieht das Buch genau aus dieser "journalistischen" Herangehensweise des Autors seinen Reiz - und seine Spannung. Jelinek, seit fast dreißig Jahren beim ORF in unterschiedlichen Funktionen tätig, heute Leiter der Abteilung "Dokumentation und Zeitgeschichte", versteht es, Geschichte(n) zu erzählen. Ganz wie es an einer Stelle im Buch heißt: "Geschichte passiert als Mehrfach-Parallelaktion."

Werfel lauscht Schuschnigg im Radio

So beginnt etwa der 6. März (nach dem Wetterbericht) mit der Information: "Bahnfahren wird billiger. Österreichs Regierung wartet mit 'guten Nachrichten' für die Bevölkerung auf. [] Selbst in der dritten Klasse werden die Bänke mit ledernen Sitzflächen ausgestattet, die Rücklehnen selbst bleiben der 'Holzklasse' entsprechend hart, erhalten aber immerhin einen 'Lederwulst'." Vom ewiggleichen Hang der Politiker, sich bei den Leuten beliebt zu machen, jäher Szenenwechsel zur Verhaftung des deutschen Tennismeisters Freiherr von Cramm (der als elegantester Spieler der Welt galt) - vorgeblich wegen einer homosexuellen Affäre mit einem jüdischen Schauspieler, letztlich aber wegen Cramms Gegnerschaft zum NS-Regime.

Für den Tag darauf, den 7. März, erfahren wir etwa, dass es der "einzigen österreichischen Großbank wieder gut [geht]. Der Creditanstalt-Bankverein veröffentlicht seine Bilanz, ungewöhnlich früh." Weniger erfreulich vielleicht: "Im März 1938 wird (in Deutschland; Anm.) die Produktion von starkem Bockbier verboten. Die Brauer haben zu viel Gerste für das alkoholreiche Bier verbraucht."

Zu den besonders eindringlichen Schilderungen des Buches zählt eine Episode vom Vorabend des Einmarsches: Franz Werfel sitzt am 11. März bei seinem vierten Schwarzen in einem Kaffeehaus in der Nähe des Stephansdoms und hört im Radio die historische Ansprache von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg ("dass wir der Gewalt weichen! [] Gott schütze Österreich!"); danach bestellt er den fünften Kaffee. "Mein Puls raste", notierte der Schriftsteller, "aber mein Kopf sank vor erschöpftem Nichtverstehen fast auf die Marmorplatte des Tischchens. Der Stimme im Radio war eine hohle Stille gefolgt. Diese Stille war ein röchelndes Grauen." Ein Gast nach dem anderen habe das Lokal verlassen, schreibt Jelinek, "Franz Werfel ist der letzte Gast. Der Ober nickt ihm wissend zu." Da rinnt es einem kalt über den Rücken.

"Es gab nie einen schöneren März" 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang Von Gerhard Jelinek Amalthea 2017,320 S., geb., € 25,00

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