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NATO: Theorie und Praxis

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Aber schon die trinnerung an diesen Versuch läßt heute viele Dänen und Norweger die Frage stellen, ob nicht doch die schwedische Alternative zur NATO-Mitgliedschaft die bessere Lösung gewesen wäre. Was 1940 falsch war, die Neutralität kleiner abgerüsteter Länder in der Nachbarschaft des hochgerüsteten Hitler-Reiches, mußte nicht gerade auch 194JS falsch sein. Beide Länder sind treue Mitglieder der NATO, in persönlichen Gesprächen, auch mit Personen in verantwortungsvoller Stellung, kann man häufiger als eine NATO-freundliche eine neutralistische und skandinavische Auffassung feststellen.

Der schwedische Entschluß, sich aus Militärbündnissen herauszuhalten und bei militärischen Konflikten neutral zu bleiben, gründet sich auf einer einfachen Überlegung: es gibt heute — ebensowenig wie zur Zeit des Völkerbundes — kein zuverlässiges Svstem der kollektiven Sicherheit. Die Absichten der Gründer mögen die besten gewesen sein, aber trotz unzähliger wohltönender Versicherungen ist die Solidarität aller Völker innerhalb der UNO eine Illusion geb'ieben. Der Übergang von einem Svstem der Militärallianren zu einem System der kollektiven Sicherheit ist nicht erfolgt. An Stelle des gegenseitgen Vertrauens ist die Terrorbalance getreten, das lähmende Gewicht der gleichmäßig verteilten Furcht vor einem Untergang in Schrecken. In einer solchen Situation die Außenpolitik auf eine Fiktion der Solidarität zu hauen, wäre unverantwortlich.

Militärbündnisse geben — nach schwedischer Auffassung — nur scheinbar eine Sicherheit. Sie verschärfen die Gegensätze, heben das Trennende hervor und verlängern einen Zustand der Unsicherheit und der Furcht, der durch einen Zufall in eine Katastroohe führen kann. Eine Politik der Bündnisfreiheit gründet sich auf eine dahingehende Beurteilung der gegebener Situation. Die Neutralitätspolitik isi nicht minderwertiger oder unmoralischer als eine andere Politik, sonderr — jenseits von Gut und Böse — ein« Politik realistischer Erkenntnisse. Wei sich in dieser Lage bemüht, sein Lanc außerhalb eines militärischen Konfliktes zu halten, erweist nicht nui seinem Volk einen Dienst, sondert auch der Sache des Friedens über haupt. Die kollektive Sicherheit — ai sich ein erstrebenswertes Ziel — is weder eine Realität geworden nocl eine Verpflichtung für alle Völker Unter diesen Umständen besteht aucl weder eine moralische noch eim juristische Verpflichtung, sich an einem der großen Militärbündnisse zu beteiligen und an einem Konflikt teilzunehmen. Ein kleiner, ziemlich einflußloser Partner hat zudem wenig Möglichkeit, die Politik eines Militärblocks zu bestimmen; die wirkliche

Entscheidung über Krieg und Frieden, über Sein oder Nichtsein, fällen andere. Dazu kommt noch, daß eine Bedürfnisfreiheit von der Verpflichtung enthebt, eine Gruppe anderer Staaten als latente Feinde anzusehen, ein Zustand, der demoralisierend und vergiftend auf das Zusammenleben der Völker wirken muß.

Wer im kalten Krieg neutral sein will, muß viele Vorwürfe einstecken. Einer von ihnen lautet, daß Schweden allzu realistisch und egoistisch denkt und übersieht, welche hohen ideellen Werte bei einem Zusammenstoß zwischen Ost und West auf dem Spiel stehen. Darf man da wirklich nur an die eigene Sicherheit denken?

Der frühere schwedische Außenminister Osten Unden hat, sich auf einen ähnlichen Vorwurf beziehend, den schwedischen Standpunkt folgendermaßen dargelegt:

„Das Motiv für unsere Haltung ist politisch. Wir sind Realisten in der Politik, und wir glauben nicht, daß eine neutrale Haltung unmoralisch ist. Wir wollen es vermeiden, in einen Konflikt hineingezogen zu werden, so lange das System der kollektiven Sicherheit nicht verwirklicht worden ist. — Andere Völker oder Individuen mögen einen anderen Standpunkt ein' nehmen, aus Gründen, die sie für bindend ansehen. Doch bemühen wir uns, unser Land aus einem Konflikt herauszuhalten und rüsten wir für diesen Zweck, dann leisten wir nicht nur uns selbst einen Dienst, sondern auch der Sache'des Friedens.“

Dieser Unwillen, sich in eine politische Front einreihen zu lassen, der andere politische Fronten gegenüberstehen, ist auch der Grund dafür, daß Schweden nur die Assoziierung zur EWG, nicht aber die volle Mitgliedschaft wünscht. Auch nach Bildung einer großen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft werden weite Teile der Welt außerhalb dieses Blocks stehen, mit allen Spannungstendenzen, die das zur Folge haben kann. Auch die industriellen Kreise Schwedens, die innerhalb der EWG am meisten zu gewinnen hätten, akzeptierten — wie alle politischen Parteien — die Neutralitätspolitik der Regierung.

Bei den meisten Behandlungen dieses Themas vergißt man vollständig darauf, welche Rolle bei der Ausforschung der schwedischen Außenpolitik die Rücksichtnahme auf die Lage Finnlands spielt. Eine Angleichung an die Militärpolitik Dänemarks und Norwegens würde bedeuten, daß die Frontlinie der NATO bis an den Tornea- und Kalix-Älv und bis in die Mitte der Ostsee, nahezu in Sichtweite der baltischen Küste, vorgeschoben werden würde. Was das für Finnland zu bedeuten hätte, kann sich jedermann ausrechnen. In diesem Fall dient also die Neutralitätspolitik Schwedens wirklich der Erhaltung der Freiheit in Finnland und der Bewahrung einer relativ ruhigen und entspannten Lage in einem großen Teil Nordeuropas. Es sollte eigentlich leicht verständlich sein, daß Schweden diese Politik nicht ändern will. Ein mit ihr untrennbar verbundener Bestandteil ist allerdings die umfangreiche militärische Rüstung konventioneller Art, denn Bündnisfreiheit bedeutet keineswegs die Neigung zu einem kraftlosen Pazifismus, der sich 1940 so unheilvoll erwiesen hat.

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