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Osterreichs Dichtkunst — von Amerika aus gesehen

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Zuerst muß man feststellen, daß der Begriff „österreichische Dichtkunst“ in Amerika nicht existiert. Man studiert an den amerikanischen Hochschulen und Colleges deutsche Literatur, womit ein sprachlicher Begriff verbunden ist; also sämtliche Literatur, die auf Deutsch geschrieben ist, wird unter diesem Begriff zusammengefaßt, ohne irgendwelche Beziehung auf nationale Grenzen. Man macht zwar einen Unterschied zwischen der Literatur des Nordens und der des Südens, und österreichische Literatur fällt natürlich unter den Begriff der süddeutschen Literatur.

In der Hauptsache gibt es zwei Arten der Dichtkunst, die auf den amerikanischen Colleges und Universitäten eingehend studiert werden, und ich rede in der Hauptsache von diesem Gebiet, da ich allein darin bewandert bin Zum Zweck des Sprachstudiums werden verschiedene deutsche Literaturdenkmäler einem eingehenden Studium unterzogen. Wie das aber gewöhnlich ist, kann man in diesem Fall von keiner Einschätzung des literarischen Wertes solcher Literaturdenkmäler reden, denn es ist doch klar, daß ein Text, aus dem man — manchmal mit großer Mühe und Not — eine Sprache erlernen muß, dem Leser nicht als glänzendes und hervorragendes Beispiel der fremden Literatur vorkommen kann Zu diesem Zweck werden oft Dramen von Grill-parzer verwenndet, was gegenüber dem großen Dramatiker eine gleich große Sünde ist wie zum Beispiel gegenüber Shakespeare in den österreichischen Schulen.

Es wird auch Literaturgeschichte getrieben, und zwar von Studenten, die fließend Deutsch sprechen, und mit denen man eingehend die literarischen Leistungen der österreichischen Meister besprechen kann. Zu diesem Zwecke werden die bekanntesten deutschen Literaturgeschichten verwendet, und die österreichische Literatur wird dann in dem Maße behandelt, in dem sie zufällig in dem betreffenden Werk zur Geltung kommt. Gerade in dieser Hinsicht sehe ich eine Aufgabe, der sich die Österreichisch-Amerikanische Gesellschaft mit großem Verdienst widmen könnte, nämlich den Begriff der österreichischen Literatur in Amerika als einer selbständigen ins Leben zu rufen und durch gut ausgearbeitete nationale Literaturgeschichten den amerikanischen Studenten zugänglich zu machen.

Ich will hier keinen Katalog jener öster-rueichischen Dichter, die in Amerika am meisten bekannt und gelesen sind, vorführen,aber in großen Zügen sollte man doch folgende erwähnen:

Der Minnesang und die höfische Epik, die doch zum größten Teil österreichischen Ursprungs sind, werden in der Literaturgeschichte eingehend besprochen und behandelt, und besonders der erstere erfreut sich unter den jungen amerikanischen Studenten und Studentinnen einer besonderen Beliebtheit, obwohl die Sprache manchmal große Schwierigkeiten macht.

Von Grillparzer werden sämtliche Dramen studiert und auch manchmal von den Studenten an den amerikanischen Universitäten zur Aufführung gebracht. Im allgemeinen kann man sagen, daß Grillparzer als der große Meister in der Darstellung schwerer innerer Konflikte, die sich zum Beispiel aus dem Wechsel von einer Lebenssphäre in die andere, oder aus dem ewigen Konflikt des schöpferischen Genies mit seiner Umwelt ergeben, gewertet wird. In den letzten 25 Jahren hat allerdings die Popularität Grill-parzers stark abgenommen.

Nach dem ersten Weltkrieg erwuchs ih Amerika ein starkes Interesse an der gesamten deutschen Literatur und man widmete sich mit besonderer Vorliebe den Modernen. Die Ubersetzungstätigkeit aus dem Deutschen ins Englische, die vor allem den Modernen gewidmet war, nahm zu dieser Zeit um über 200 Prozent zu. So sind zum Beispiel sämtliche Werke von Arthur Schnitzler ins Englische übersetzt worden und die Einakter und Dramen wurden sehr oft an amerikanischen Colleges und Universitäten entweder auf Deutsch - oder auf Englisch gespielt.

Auch die Werke von Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr waren sehr populär. Ebenso wurden die Romane und Novellen von den Brüdern Zweig in Amerika wie in aller Welt im Original und in Übersetzungen weit bekannt.

Ich möchte hier eine kleine Einschaltung machen, um über das enge Verhältnis, das in Amerika zwischen der Bühne und den Colleges besteht, einiges zu sagen. Außer in den großen Städten sind in Amerika die Möglichkeiten, ein gutes und ernstes Drama aufführen zu können, ziemlich beschränkt. Es ist daher Sitte geworden, daß in beinahe jedem amerikanischen College und jeder Universität ein sogenanntes „Linie Theater“, ein kleines Theater, besteht, wo die Studenten alle bedeutenden Dramen ohne Rücksicht auf die Box Office, auf die Einnahmen, aufführen können. Die meisten dieser kleinen Theater verfügen über eine großzügige Ausstattung mit den besten bühnentechnischen Einrichtungen. Die Zuhörerschaft besteht zum großen Teil aus Mitgliedern der Theatergesellschaft, die auch zu den Kosten der Unternehmung beitragen. Manchmal nehmen auch die Colleges selber einen großen Anteil der Kosten auf sich. Diese „kleinen Theater“ bringen sehr oft Erstaufführungen von neuen europäischen Dramen, manchmal auch in der Originalsprache. Diese Darbietungen sind oft mit einem einleitenden Vortrag verbunden, der die Bedeutung des Stückes hervorhebt. Zufolge dieser Einrichtung hat man in Amerika die Tätigkeit der mit den Colleges verbundenen Theater und der sogenannten kleinen ausübenden Bühnengesellschaften sehr wohl in Betracht zu ziehen, wenn man das kulturelle Leben in Amerika bewerten will.

Nach dem Jahre 1933 nahm an den amerikanischen Colleges und Universitäten das Interesse an der deutschen Literatur stark ab. Selbst die Professoren fanden sich entweder abgeriegelt von ihren engen Beziehungen mit dem früheren Deutschland oder es erwachte in ihnen allmählich ein gewisses Mißtrauen gegen alle belletristischen Erzeugnisse des Dritten Reiches. Dieses Mißtrauen festigte sich mit der Zeit zur Gewißheit, daß das, was im Dritten Reich an Literatur hervorgebracht wurde, nicht mehr von Bedeutung für die gesamte Kultur der Menschheit war. Politisches und soziologisches Interesse konnte man daran finden, aber künstlerische Wahrheit und kulturelle Bedeutung fehlte. An Stelle des Interesses an der deutschen Literatur trat jenes für die Emigrantenliteratur, besonders da man bedeutendste schöpferische Kräfte nun bei sich in Amerika hatte. In dieser Hinsicht kann jetzt Amerika einen Teil der deutschen Literatur wieder an Österreich und Deutschland zurückgeben. Es ist zum Beispiel von höchstem Interesse, der Entwicklung von Thomas Mann in Amerika nachzuspüren. Im November 1943 hörte ich in Washington einen Vortrag von Thomas Mann über die Zukunft des Deutschen Reiches Der Wandel, der sich in diesem Mann innerlich vollzogen hatte, der 1918 noch ein Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen“ betitelt hatte, war staunenswert. Gerade in dieser Hinsicht, glaube ich, haben die deutschen und österreichischen Emigranten in Amerika sehr viel gelernt, das ihrer europäischen Heimat wieder zugute kommen sollte. Im großen und ganzen kann man sagen, daß sie den Standpunkt, die Literatur könne Unpolitisch sein, vollkommen überwunden haben. Es ist ihnen klar geworden, daß man unterscheiden kann zwischen parteipolitischer Propaganda, auf die sich kein wahrer Künstler einläßt, und einem regen und mitwirkenden Interesse an dem öffentlichen Leben des ganzen Volkes, das erst jetzt als wahre Pflicht des Künstlers empfunden wird. Letzten Endes ist der Mensch ein politisches Wesen, wie schon Aristoteles erkannt hat, und der Künstler, der sich seiner Pflicht gegenüber dem Staate und dem Volke entziehen will, begeht' gewissermaßen ein Verbrechen an sich selbst und an seinem Vaterlande.

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