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Psychiater tagten in Paris

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Als vor nun fast zwanzig Jahren beim damaligen internationalen Neurologenkongreß in Bern in privatem Gespräch mit einer Reihe führender Fachgenossen die Idee der Veranstaltung eines internationalen Kongresses für Psychiatrie erörtert ward, wurde sie als vorerst noch verfrüht bezeichnet. Inzwischen sind gewaltige Veränderungen auf allen Gebieten, bei weitem nicht nur in der Wissenschaft, vor sich gegangen, hat die Welt ein gänzlich anderes Gesicht angenommen. Mitten in diesem neuen Werden aber haben es die französischen Psychiater vor nun annähernd vier Jahren auf sich genommen, die Idee eines Weltkongresses für Psychiatrie zur Wirklichkeit werden zu lassen. Nach jahrelanger organisatorischer Tätigkeit ist das große Werk mitten in einer von Unruhe erfüllten Zeit zustande gekommen. Daß es geworden ist, bleibt für immer ein Verdienst vor allem zweier Männer: des Chefs der Pariser Psychiatrischen Universitätsklinik, Professor Dr. Jean Delay, und des Anstaltsdirektor Dr. Henri Ey (ersterer der Präsident, letzterer der Generalsekretär des Kongresses). Diese Gelehrtenversammlung, wohl eine der größten seit Menschengedenken, mit annähernd 1800 eingeschriebenen Teilnehmern aus rund einem Halbhundert Ländern, fand vom 18. bis 27. September dieses Jahres in Paris statt. Ihr Zentrum war das Hauptgebäude der altehrwürdigen Sorbonne, der Pariser Universität, in deren riesigem Amphitheater sich die Plenarsitzungen abspielten. Außerdem aber wurde eine große Anzahl von Sitzungen in den nahegelegenen Sondergebäuden der medizinischen Fakultät, an der Psychiatrischen Klinik sowie in der Pariser Universitätsstadt abgehalten.

Die Organisation dieses Monsterkongresses war so aufgebaut, daß in sieben allgemeinen Plenarsitzungen über die Hauptthemen referiert wurde. Diese waren: die Psychopathologie der Wahnbildung; die Frage der Testmethoden in der psychiatrischen Klinik; die Kinderpsychiatrie; die modernen hirnchirurgi-schen Methoden in der Psychiatrie beziehungsweise die Psychodiirurgie; die Schockmethoden in der psychiatrischen Therapie; die soziale Psychiatrie einschließlich der Eugenik; Psychotherapie, Psychoanalyse und psychosomatische Medizin. Abgesehen von diesen sieben Monstersitzungen wurde in einer Reihe von Sektionssitzungen sowie in etwas loser gefügten Zusammenkünften (Symposien und Kolloquien) verhandelt, und zwar auoh zusätzlich über eine ganze Reihe von Themen, zum Beispiel: Kriegseinflüsse und Geistesstörungen; Elektro-narkose; Therapie des Alkoholismus; Gruppenpsychotherapie; psychiatrische Fürsorge und sonstige öffentliche Einrichtungen und bezügliche Gesetzgebungen; Psychopathologie der Sinnestäuschungen; Elektroencephalographie; Narkoanalyse. Dies nur eine beschränkte Auslese aus der großen Zahl der zum Vortrage und zur Aussprache gekommenen Gegenstände. Es fanden jedoch mehr als siebzig wissenschaftliche Sitzungen der verschiedenen angegebenen Kategorien, davon in der Regel viele zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten, statt. Ein wahrhaft gigantisches Arbeitspensum!

Es erhebt sich begreiflicherweise die Frage, und namentlich der gebildete Laie wird sie stellen, ob diese Riesenversammlung von Gelehrten und Fachleuten als solche etwas geoffenbart hat, was als ein neuer großer Fortschritt in unserer Wissenschaft gewertet werden könnte. Sagen wir es gleich: Dieser Kongreß war vor allem eine gewaltige Uberschau über den augenblicklichen Stand der psychiatrischen Wissenschaft. Aber schon das allein bedeutet ungeheuer viel angesichts des Umstandes, daß hier zum erstenmal in der Geschiehte Psychiater aus sämtlichen Erdteilen und aus den fernsten Ländern mit ihren sovielfach verschiedenen Schulen und Gedankengängen zusammengekommen sind und auf breitester Grundlage miteinander wissenschaftliche Aussprachen pflegen konnten. Abgesehen davon aber haben gerade die letzten Jahre und Jahrzehnte der früher gegenüber ihren medizinischen Schwesterdisziplinen ein wenig zurückgebliebenen Psychiatrie so gewaltige Fortschritte gebracht, daß schon eine bloße Registrierung auf so breiter Basis einen Markstein in der Entwicklungsgeschichte der Psychiatrie bedeuten mußte: das war der Kongreß und das waren seine Ergebnisse ohne jeglichen Zweifel.

An dieser Stelle sei nur auf jene Ergebnisse hingewiesen, die auch für den gebildeten Laien und seine Sphäre bedeutsam sind. Zunächst wurde erneut festgestellt, daß die Wahnbildung, demnach eines der wichtigsten Kriterien geistiger Störung, bei den verschiedenen Psychosen einen sehr verschiedenen Mechanismus an sich hat und daß auch die klinische und praktische Bedeutung der Wahnbildung nichts weniger als ein Einheitliches darstellt. Ein weiteres Ergebnis war die Feststellung der Tatsache, daß, wie in Fachkreisen auch nicht unbekannt, namentlich in der angelsächsischen Psychiatrie die Austestung der Kranken mit gleichsam mathemati-sierenden, aber auch mit anderen Laboratoriumstestmethoden eine außerordentlich große Bedeutung erlangt hat; diese Methoden sind irgendwie verwandt jenen der Psychotechnik, deren sich vor allem die Industrie bedient. Man mag darin gleichsam ein Widerspiel erblicken gegen die enorme Bedeutung, welche gerade in den englischsprechenden Ländern die deutende Psychoanalyse erlangt hat, ohhe die es dort kaum mehr eine klinische Psychiatrie zu geben den Anschein hat; Übersteigerungen, die da wie dort vorkommen, wurde aber auch entgegengetreten, denn der auch klinisch gediegenste „Test“ ist und bleibt nach wie vor die psychologisch und psychopatho-logisch kritisdie Bewertung des Verhaltens einer Person in den verschiedenen Lebenslagen; damit ist aber der laboratoriumsmäßigen Testung das Daseinsrecht natürlich keineswegs abgesprochen, beides ergänzt einander vielmehr. Daß die Kinderpsychiatri'e einschließlich der Fragen kindlicher Kriminalität und der sogenannten child-guidance-Kliniken so stark betont wurde, liegt namentlich in der Linie jener Art Psychohygiene, die von Amerika aus be-, stimmt ist, aber auch in Europa in dieser Gestalt mehr und mehr Raum gewinnt; Geisteskrankheiten vorbeugen heißt ja. in sehr vornehm-, licher Weise sich schon um die Kinder, namentlich um die g ef ähr de t en.K i n d e r, k ümmer n, sie studieren, erziehen, befür-sorgen.

Auf dem Gebiete der Psycho-Chirurgie wurde vor allem darüber diskutiert, welches die Grenzen der Anwendung der Hirndurchschneidung (Lobo-tomie) und hinwiederum jene der operativen Um- uhd Ausschneidung (Topek-tomie) bestimmter Hirnanteile seien; hier sind die Meinungen noch nicht ganz einheitlich; nur darüber herrscht kein Zweifel, daß diese Methoden, die letzten Endes auf den Nobelpreisträger E g a s M o n i z zurückgehen, einen segensreichen Fortschritt in der Behandlung psychischer Störungen, so der Schizophrenie, aber auch gewisser Fälle schwerster Zwangsneurose bedeuten. Von Interesse ist hier der Versuch mancher Forscher, statt der Durch- oder Um- beziehungsweise Ausschneidung von Hirnanteilen gewisse Pharmaca in bestimmte Hirnpartien zu injizieren, um dadurch klinische und therapeutische Wirkungen zu erzielen; französische Psychiater haben solche Versuche unternommen. Von den anwesenden Österreichern konnte zumal Hans Hoff berichten, daß er im Verein mit dem Wiener Chirurgen Felix Mandl durch Novocaineinspritzung in bestimmte Hirnpartien bei Schizophrenen auffallende Besserungen erzielt habe, wenngleich vorerst über deren Andauer noch nichts gesagt werden könne.

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