"Betreuung" ist von gestern

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Was gute Kindergärten leisten müssen. Ein Lokalaugenschein.

In der "Igelgruppe" geht es hoch her: Zum Aufwärmen wird "Hey, Pippi Langstrumpf" gegrölt. Danach gewähren die Knirpse Einblicke in die Abenteuer ihres Lebens: Der fünfjährige Ivan erzählt dreimal hintereinander von seinem Besuch in der Lobau - und dem Umstand, dass es dort Eis und Pommes gab; der zweijährige Dorian verrät, dass seine Eltern Raffael und Katharina heißen; und die ebenfalls zweijährige Sophie beschreibt atemlos den Wasserrohrbruch in ihrer Straße. Nur der zweijährige Adrian will heute gar nichts erzählen. Aber auch das ist erlaubt.

Jeden Tag um Viertel vor zehn Uhr versammeln sich die 84 Kleinen im ORF-Betriebskindergarten des Vereins "Kinder in Wien" (KIWI) am Küniglberg zu ihren "Morgenkreisen". Je 21 Kinder zwischen einem und sechs Jahren sitzen mit ihren zwei Pädagoginnen und einer englischsprachigen Betreuerin zusammen, um Erlebtes auszutauschen und die Angebote des neuen Tages zu besprechen. Ob wissenschaftliche Experimente, Puppenspiel, ein Ausflug auf den nahen Waldspielplatz oder ein Abstecher in den Dach-Garten des 1999 erbauten, lichtdurchfluteten Gebäudes: Für jedes Kind ist etwas dabei.

Größtmögliche Flexibilität

Auch mitten im Sommer, obwohl sich nur zwölf Kinder in die "Igelgruppe" verirren. Doch Flexibilität gehört für KIWI längst zum Konzept. Nur zwei Wochen pro Jahr haben die meisten der 40 KIWI-Standorte in Wien geschlossen: zwischen Weihnachten und Neujahr sowie während der Konzeptions- und Reinigungswoche unmittelbar vor Semesterbeginn. Ansonsten stehen die Pforten immer offen: von halb acht Uhr morgens bis halb acht Uhr abends. "Unser Ziel ist aber nicht die Zwölf-Stunden-Betreuung", erklärt die pädagogische Leiterin von KIWI, Monika Riha, "uns geht es um größtmögliche Flexibilität für die Eltern." Ein Angebot, das nach Riha für die Eltern "prinzipiell kostenlos" sein sollte. Weil man jedoch als Verein mit den Elternbeiträgen und der Gruppensubvention der Stadt Wien das Auslangen finden müsse, seien für einen Ganztagsplatz 280 Euro pro Monat zu berappen.

Kindergarten als Familie

Dafür wird von KIWI längst mehr als "Betreuung" geboten. "Wir verstehen den Kindergarten natürlich als Bildungseinrichtung", erklärt die langjährige Kindergarten- und Hortpädagogin Riha, die auch für die ÖVP im Wiener Gemeinderat sitzt. Die Arbeit mit Montessori-Materialien oder die spielerische Heranführung an Mathematik sei längst Teil des pädagogischen Alltags. Auch würden Kinder mit Sprachdefiziten seit jeher besonders gefördert - nicht erst seit den bundesweiten Sprachstandsfeststellungen im Mai und Juni dieses Jahres. "Bei uns am Küniglberg gibt es natürlich wenige Kinder mit Sprachproblemen", betont die Leiterin des Kindergartens, Susanne Chmelik. Aber auch an anderen KIWI-Standorten mit einem höheren Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund sei der Spracherwerb kein Problem. Schließlich würden viele Kinder schon die sprachsensible Phase zwischen einem und vier Jahren in den altersgemischten, familienähnlichen KIWI-Gruppen durchlaufen.

Der Kindergarten soll also ein Bildungsgarten ein. Und doch würde sich das Lernen der Unter-Sechsjährigen vom schulischen Lernen wesentlich unterscheiden, ist Monika Riha überzeugt. Entsprechend erbost ist sie über jüngste Vorschläge, Volksschullehrer zur Frühförderung im Kindergarten einzusetzen. Mitte August hatte etwa die stellvertretende Direktorin der Wiener Arbeiterkammer, Johanna Ettl, ein "Kindergartenjahr mit Inhalten" gefordert. Zwar sollte es "keinen Frontalunterricht für Fünfjährige" geben, aber dennoch Maßnahmen, damit der Kindergarten auf die Schule vorbereiten könne. Ein Ansatz, der bei Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SP) auf Wohlwollen stößt: "Es wäre ideal, wenn sich ein, zwei Stunden am Tag Volksschullehrerinnen im Kindergarten mit den Kindern beschäftigen", meinte sie etwa gegenüber der Presse.

Volkschullehrer, nein danke

Nicht nur Monika Riha, auch die Plattform EduCare für elementare und außerschulische Bildung läuft angesichts solcher Ideen Sturm. "Die Annahme, dass Lehrer Experten für den noch zu definierenden Bildungsauftrag des Kindergartens sind, widerspricht allen wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen der letzten Jahre", schreibt die Plattform, in der unter anderem Caritas, Kinderfreunde, Katholischer Familienverband, ÖGB und selbst die Arbeiterkammer vertreten sind.

Auch namhafte Elementarpädagogen stoßen ins selbe Horn. "Wir wissen, dass Kinder in den ersten fünf, sechs Lebensjahren am besten lernen, wenn sie selbst aktiv sind und wenn sie zusammen mit kompetenten Erwachsenen und anderen Kindern ihre Bildungsaktivitäten gemeinsam gestalten", meint etwa Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. Damit dieses aktive und kooperative Lernen gelingen könne, seien "kleine, stabile Gruppen" notwendig, die emotionale Geborgenheit vermitteln würden. In der Schule hingegen gingen die Bildungsaktivitäten noch zu einseitig von der Lehrkraft aus. Insgesamt sei eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Elementar- und Volksschulpädagoginnen notwendig, meint die Expertin. Auch eine gemeinsame Ausbildung sei nötig.

Deutsche gesucht!

Ein Vorschlag, den Monika Riha oben am Küniglberg nur unterstreichen kann. Wie die Plattform EduCare fordert sie seit langem die Anhebung der Ausbildung von Kindergartenpädagoginnen auf Hochschul-Niveau. Nur so könne die Qualität im "Bildungsgarten" gesichert und das Image des Berufes verbessert werden.

Angesichts des grassierenden Pädagoginnenmangels in Wien ist es für ein solches "Upgrade" höchste Zeit. Vor allem die Offensive des Landes Niederösterreich, wo künftig schon Zweieinhalbjährige in den Kindergarten aufgenommen werden, hat die Wiener Personalsituation verschärft. "Früher habe ich aus einem Stoß Bewerbungen auswählen können", erinnert sich Monika Riha, während die Erzieherin Fanny und der englischsprachige Betreuer Daniel gerade die "Igelgruppe" vom Morgenkreis ins freie Spiel entlassen. "Doch mittlerweile muss ich sogar in Deutschland inserieren."

Infos unter www.kinderinwien.at

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