Gemeinsam an die GRENZEN GEHEN

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Um schwerkranke Menschen gut begleiten zu können, braucht es hilfreiche Nähe und heilsame Distanz - auch bei Ehrenamtlichen. Ein Seminarbesuch im Kardinal König Haus.

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Um schwerkranke Menschen gut begleiten zu können, braucht es hilfreiche Nähe und heilsame Distanz - auch bei Ehrenamtlichen. Ein Seminarbesuch im Kardinal König Haus.

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Ein guter Tag beginnt mit einem chinesischen Morgengruß. Christian Metz steht im blühenden Garten des Wiener Kardinal König Hauses und macht vor, wie man mit sich und der Welt ins Reine kommt: "Ich öffne das Fenster / Über mir der Himmel /Unter mir die Erde /Dazwischen: Ich! / Feuer / Wasser /Es ist genug von allem da / Ich mische es gut durcheinander / Werfe weg, was ich nicht brauchen kann /Ein kleiner Rest für die Vögel / Der Lotos blüht auf /Ich umarme meinen Tiger /Und kehre zurück zum Berg."

Zusammen mit Metz, der im Bildungshaus den Bereich Hospiz und Palliative Care leitet, öffnen auch die 22 Frauen und zwei Männer um ihn herum pantomimisch Fensterflügel und nehmen sich fauchend in die Arme. Anschließend sollen sie auf einem fiktiven Koordinatensystem mit den vier Ausrichtungen Nähe, Distanz, Dauer und Wechsel jene Position einnehmen, die ihnen derzeit entspricht - und dann jene, die sie gern hätten. Ist die Verteilung anfangs ausgewogen, so sind nun "Wechsel" und "Distanz" die Favoriten.

Erschöpfungs-Prophylaxe

Kein Wunder, wenn man die beruflichen Hintergründe der Teilnehmenden kennt: Immerhin 16 von ihnen sind im Palliativ-oder Pflegebereich tätig, sieben davon ehrenamtlich. "Hilfreiche Nähe &heilsame Distanz" - so der Titel des Seminars, das Metz gemeinsam mit der Ärztin und Psychotherapeutin Barbara Laimböck leitet - sind zwar in allen Beziehungen wichtig; für Menschen, die Schwerkranke begleiten, sind sie aber auch zentrale Bestandteile einer Arbeitshaltung, die sie vor Erschöpfung und Zynismus bewahrt.

Doch wie stellt man überhaupt Nähe her? Und wie signalisiert man Distanz? Es beginnt schon mit der Körpersprache, wie sich bald in einer Selbsterfahrungsübung zeigt: ein Blick in die Augen, und der andere fühlt sich aufgefordert; ein ausweichender Blick, und man ist gar nicht da. Noch klarer ist nur noch das Wörtchen "Nein!", das viele jedoch ebenso scheuen wie die Analyse ihrer inneren Antreiber: Muss ich perfekt sein - oder darf ich auch Fehler machen? Muss ich über meine Grenzen gehen - oder kann ich auch sagen: Diesmal nicht?

Zumindest in diesem zweiten Punkt will Ermentraud Böhm heute noch dazulernen: Jeden Donnerstag Nachmittag fährt die 53-jährige Chefsekretärin auf die Pflegestation des CS Hospiz Rennweg und besucht einen Mann mit Demenz; Freitag Nachmittag betreut sie auch noch einen anderen Demenzbetroffenen zu Hause -und auf dem Rückweg leistet sie noch Dienst auf der Hospizstation. "Das ist natürlich viel, doch ich mache das irrsinnig gerne", erzählt die Mutter zweier erwachsener Söhne in der Kaffeepause. Eigentlich wollte sie sich erst in der Pension ehrenamtlich engagieren, doch die Krankheit eines Freundes habe sie motiviert, dieses Vorhaben vorzuziehen. Wie alle ehrenamtlich Engagierten hat sie deshalb den verpflichtenden Einführungskurs in die "Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung" und anschließend auch noch den neuen Kurs für Demenz-Wegbegleiterinnen absolviert. Um die oft belastenden Hospiz-Geschichten nicht nach Hause mitzunehmen, hat sich Böhm bald ein Ritual ausgedacht: heimkommen, duschen und Wäsche in die Waschmaschine stecken. Mittlerweile braucht sie das nicht mehr, aber etwas öfter auf sich selbst zu schauen, wäre schon ganz gut. "Das CS Hospiz Rennweg ist eben mein zweites Leben geworden", sagt sie bestimmt.

"Ich brauche diese Ruhe neben dem stressigen Job, damit ich selbst zur Ruhe komme".

Anna K. hingegen wurde letztens in denkbar große Unruhe versetzt. Jene 90-jährige Dame, die sie im Rahmen ihres mobilen Besuchsdienstes betreute, war zu früh aus dem Spital entlassen worden und hatte Zuhause Atemprobleme bekommen. Um sie zu lindern und den Oberkörper anzuheben, stopfte K. Bettzeug unter die Matratze. Weil die alte Frau sie heimschickte und meinte, selbst in der Früh den Arzt zu rufen, ging sie nach Hause. Am nächsten Morgen schickte der Mediziner die alte Dame sofort ins Spital: Verdacht auf Nierenversagen. Wäre sie später eingeliefert worden, dann wäre sie womöglich gestorben.

Mehr tun müssen, als man darf

Bis heute quält sich Anna K. mit der Frage, ob sie damals richtig gehandelt hat. "Eigentlich darf ich als Ehrenamtliche ja nur reden und Hand halten", sagt sie. "Aber was soll ich tun, wenn ich in der Praxis mehr tun muss als ich darf?" Solche unklaren Zuständigkeiten erleichtern nicht gerade die innere Balance, weiß Christian Metz: "Damit das gelingt, braucht es immer auch die entsprechenden Organisationsstrukturen. Allein kann man das nicht schaffen."

Ein Satz, der auch für das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamtlichen auf Palliativstationen gilt. Meist werden freiwillig Tätige als unverzichtbare Stütze und Entlastung empfunden, bisweilen gibt es aber auch Konflikte. Für Martin Böker, langjähriger Leiter des "Helga-Treichl-Hospizes" in Salzburg (heute Raphael-Hospiz) und mittlerweile als Coach in Baden-Württemberg tätig, ist das eine Folge unterschiedlicher Kulturen: "Die Hauptamtlichen brauchen Disziplin und Struktur, um ihren Job gut zu erledigen, und dann kommen die Ehrenamtlichen mit ihrer Beschwingtheit und ihrem Freiraum. Da prallen oft Welten aufeinander." In seiner Dissertation "Motivation und Lebensstil von Hospizmitarbeiterinnen" hat Böker diese verschiedenen Zugänge umfangreich analysiert.

Erika F. hat einen solchen Culture-Clash selbst erlebt. Seit 2014 engagiert sich die 52-Jährige ehrenamtlich auf einer Hospizstation in einem niederösterreichischen Pflegeheim. Dort ist sie auf Frau K. gestoßen, eine herausfordernde Persönlichkeit, die von den hauptamtlichen Krankenschwestern und Pflegenden "aufgegeben" wurde, wie F. meint: "Sie hat auch niemanden an sich heranlassen, aber ich habe sie trotzdem gemocht." Sukzessive verschlechterte sich das Verhältnis zu den Diplomkrankenschwestern. Erst nach einer Fall-Supervision, zusätzlichen Gesprächen mit der Ehrenamts-Koordinatorin sowie den involvierten Schwestern löste sich alles in Wohlgefallen auf.

Heilsame Distanz zur Mutter?

Ein Zustand, der für Erna S. der Normalfall ist. "Für mich ist die ehrenamtliche Tätigkeit unglaublich bereichernd", erzählt sie am Ende des Kurses im Kardinal König Haus. Fünf bis sechs Stunden pro Woche verbringt die 63-jährige, ehemalige Lehrerin auf der Palliativstation des Wiener Krankenhauses Göttlicher Heiland. Die Anerkennung durch die Hauptamtlichen sei groß, auch Nähe-Distanz-Probleme habe sie keine - ganz im Gegensatz zur häuslichen Situation mit ihrer hochbetagten Mutter, dem eigentlichen Grund ihres Seminarbesuchs. "Sie ist total auf mich fokussiert, und ich kann nur schwer nein sagen", klagt S.

Vielleicht helfen ihr die gelernten Übungen, um auch im Verhältnis zur Mutter etwas mehr "hilfreiche" Nähe und heilsame Distanz herzustellen. Vielleicht braucht sie aber auch nur konkrete Entlastungsangebote, um nicht ständig über ihre Grenzen gehen zu müssen. - "Es ist genug von allem da": Dieser Satz aus dem chinesischen Morgengruß wäre für den gesamten Pflege- und Hospizbereich eine schöne Verheißung.

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