Jenseits von Vernunft und Kalkül

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Die Marktwirtschaft hat ihren weltweiten Siegeszug angetreten. Doch Märkte bedeuten nicht nur simple Tauschbeziehungen. Dahinter stehen auch geistige Welten - und die haben ihre Nuancierungen.

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Die Marktwirtschaft hat ihren weltweiten Siegeszug angetreten. Doch Märkte bedeuten nicht nur simple Tauschbeziehungen. Dahinter stehen auch geistige Welten - und die haben ihre Nuancierungen.

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Praktische und theoretische Ökonomen glauben meist, sie hätten mit der Kultur nichts zu tun - wenn es nicht gerade um das Sponsoring irgendwelcher kultureller Events geht. Wirtschaften sei eine "rationale" Sache, eine Sache präziser Berechnungen und vernünftiger Entscheidungen, eine Sache harter Fakten. Aber hie und da macht einem die Geschichte einen Strich durch die Rechnung, und es drängt sich eine Wirklichkeit auf, der man sich nicht verschließen kann. Plötzlich wird man dessen gewahr, dass die Kultur am Ende prägend sein könnte. Drei Beispiele sind lehrreich.

Erstens: Nach dem erstaunlichen Jahr 1989, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, hat es große Erwartungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung der Ostländer gegeben, und naive Theoretiker haben diese Erwartungen genährt. Man müsse nur eine vollständige Liberalisierung bewerkstelligen, das heißt den Kapitalismus einführen, und das Ergebnis würde ein rascher und anhaltender Wachstumsprozess sein. Jene, welche die Wende "radikal" einleiteten, die - mehr noch als in den kapitalistischen Ländern - eine "Marktwirtschaft ohne Adjektive" forderten, waren sich sicher, dass die dergestalt konstruierte und freigesetzte Maschinerie in einem Boom losbrechen werde. Die Erfahrungen haben anderes gelehrt: Die Einführung privatwirtschaftlicher Institutionen, Marktliberalisierung und monetäre Stabilisierung reichen nicht. Das Denken der Menschen muss anders werden - alles in allem: die "Wirtschaftskultur" muss sich verändern.

Märkte brauchen eine Marktkultur. Es handelt sich bei Märkten nicht um simple Tauschbeziehungen von Ware gegen Geld. Es steht eine geistige Welt dahinter, und diese Welt hat ihre Nuancierungen. Deshalb gibt es auch eine "russische" und eine "polnische" Marktwirtschaft, eine "slowenische" und eine "ungarische" - und natürlich gibt es auch einen "amerikanischen Kapitalismus" und einen "deutschen" oder "schwedischen". Erst nach den (überraschenden) Erfahrungen mit den postsozialistischen Ländern darf nunmehr die Frage gestellt werden, ob Russland trotz quasi-marktwirtschaftlicher Institutionen in den nächsten Jahrzehnten stagnieren wird; ob die feudalistisch-kommunistische Geschichte ohne eine durchlaufene Periode durchgreifender Liberalisierung oder Aufklärung am Ende ein nachwirkendes Hindernis für die marktwirtschaftliche Dynamik darstellen könnte; ob sich zwischen dem abendländisch-christlichen und dem byzantinisch-orthodoxen Kulturkreis in den Kategorien wirtschaftlichen Denkens gar noch größere Gräben finden lassen als in der Perspektive rivalisierender Kirchenfürsten.

Zweitens: Unterschiede gibt es auch in den Subkulturen. Die Welt wird offener, die Menschen geraten in Bewegung. Manche sprechen von einer neuen Völkerwanderung. Emigranten, die ihren Herkunftskulturen verhaftet bleiben, bieten nicht nur Beispiele für eine atavistische Wiederbelebung von (nationalistisch-fremdenfeindlichen) Haltungen in den Siedlungsländern, die man längst versunken wähnte; sie geben auch wirtschaftskulturellen Stoff zum Nachdenken. Mit einer größeren globalen Beweglichkeit nehmen die irritierenden Fallstudien zu. Emigranten mögen es in den Aufnahmeländern überall schwer haben, aber sie überwinden die Hindernisse mit unterschiedlichem Geschick. Sie bleiben nicht überall in den Slums hängen, zuweilen reüssieren sie.

Noch auffallender: Unterschiedliche Emigrantengruppen können bei denselben Ausgangsbedingungen auf sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolg verweisen. Warum der Erfolg von chinesischen, japanischen und koreanischen Immigranten in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu den Hispanics? Eine gefährliche Frage, weil man Gefahr läuft, an einigen "politisch inkorrekten" Antworten - von der Rassenfrage bis zu einer "Kultur der Faulheit" - entlang zu schrammen.

Was wird China tun?

Oftmals bieten sich Erklärungen an, die uns zu rasche Antworten offerieren. Bei den Chinesen, die sich in der Emigration als recht erfolgreiche Geschäftsleute erweisen, ist es üblich geworden, den Erfolg ihrer Familienbindung zuzuschreiben: der erfolgreich vernetzten Großfamilie; einer familiären Konstellation, die gewissermaßen ein Substitut für die protestantische Selbstdisziplinierung darstellt.

Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Peter L. Berger stellt mit Recht zwei Emigrantengruppen einander gegenüber: Sowohl die Hongkong-Chinesen als auch etwa die Mexikaner haben ein Wertsystem, das man als âfamilienorientiert' bezeichnen kann, denn in beiden Fällen ist die Familie der Mittelpunkt für alles, was der einzelne unternimmt. Aber die Familie des Auslandschinesen ist eine funktionstüchtige Einheit, sie schafft Kapital, Kredit und ein solides Netz von Geschäftskontakten, sie ist Stellenvermittlung und soziales Sicherheitssystem.

Im Gegensatz dazu ist die mexikanische Familie ein Verteilungsapparat, ein System, um Verpflichtungen zu erfüllen, das heißt, jeder Gewinn aus individueller sozialer Mobilität wird prompt an eine große Zahl von Verwandten, "compadres" und andere Nutznießer weitergegeben. Der Anerkennung des Strebsamen - "Einer von uns hat es geschafft!" - steht der Neid gegenüber - "Wofür hält er sich denn?" Eine enge Familienbindung ist also in manchen Fällen günstig, in anderen Fällen nicht; es hängt von der Beschaffenheit dieser Familienbindung im Rahmen allgemeiner kultureller Wertsysteme ab, wie sie sich wirtschaftlich umsetzen lässt.

Drittens: Wir haben es mit neuen kapitalistischen Staaten zu tun, mit Japan, dem erfolgreichen Nachzügler, mit den ostasiatischen Tigerstaaten, mit einem erwachenden China. Wie sind ihre Chancen, einen langdauernden kapitalistischen Wachstumsprozess vollziehen zu können, und auf welchen kulturellen Grundlagen kann sich dieser vollziehen? (Der Protestantismus, wie ihn Max Weber als fruchtbaren Boden für das Abendland postulierte, kann es ja wohl nicht sein).

Wenn es nur darum ginge, dass politische Hindernisse beseitigt werden und die Preise sich ungehindert auf "korrekte" Niveaus einpendeln könnten, um die Märkte das tun zu lassen, was sie in diesem Falle tun: nämlich ein selbsttragendes Wachstum auszulösen, - wenn es also nur darum ginge, dann würde sich die Frage nach den Entwicklungschancen dieser Länder gar nicht stellen. Aber man kann einerseits nicht nur auf festgeschriebenen Pfaden in Richtung auf eine kapitalistische Wirtschaft vorankommen, andererseits kann man wohl auch nicht unter beliebigen Ausgangszuständen oder Rahmenbedingungen Erfolg haben. Einmal mehr gilt: Kulturelle Arrangements kommen als wirtschaftsförderliche oder -hemmende Faktoren ins Spiel.

Wir reden von "Wirtschaftskultur". Bei der "Wirtschaftskultur" handelt es sich um Glaubenshaltungen, Symbole und Werte, welche die Art und Weise bestimmen, in der die Menschen innerhalb des Rahmens wirtschaftlicher Institutionen handeln. Man erkundet hiebei den sozialen, politischen und kulturellen Nährboden für wirtschaftliche Aktivitäten, die Verhältnisse, unter denen sich wirtschaftliche Prozesse vollziehen.

Das ist alles andere als unaktuell; es schließt Fragen ein wie: Wie konnte Österreich als obrigkeitsstaatliches Land einen so großen wirtschaftlichen Erfolg haben? Wie erfolgt der Umbau eines sozialpartnerschaftlichen Bewusstseins zu einem liberaleren? Wie lange wird es dauern, bis wir den Staat in unseren Köpfen ein wenig haben schrumpfen lassen? Aber auch: Was können Märkte nicht regeln? Welche unerfreulichen Begleiterscheinungen kann es haben, wenn wir Marktmechanismen unbesonnen in Bereichen einsetzen, wo sie nichts verloren haben ...?

Zum Thema: Einflüsse auf den Wirtschaftserfolg Der Frage unterschiedlicher "Wirtschaftskulturen" ist eine Tagung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft nachgegangen, die unter der Leitung des Grazer Soziologen Manfred Prisching an der steirischen Fachhochschule Joanneum stattfand. Der Salzburger Historiker Christian Dirninger spürte der ideengeschichtlichen Diskussion zwischen den Polen Staats- und Marktorientierung nach. Die Wiener Soziologin Gertraude Mikl-Horke analysierte religiöse, Martin Tschandl von der Fachhochschule ethnische Einflüsse auf das Wirtschaften. Die Grazer Sozialwissenschaftler Helmut Kuzmics und Gerald Mozetic befaßten sich mit der Eigenart des britischen und des österreichischen Nationalcharakters, auch unter Verwendung literarischer Belege. Einschlägige Analysen aktueller Bestseller brachten Peter Wilhelmer, Bernd Weiler, Johann Brunner und Werner Fritz.

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