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"The Third Wave". Oder: Wie ein Schul-Experiment außer Kontrolle geriet. Wien, 15. März 1938: Drei Tage nach dem "Anschluss" verkündet Adolf Hitler einer euphorisierten Menschenmasse auf dem Heldenplatz "den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich". Wäre eine solche Gleichschaltung auch heute noch möglich? Ja, behauptet der US-Amerikaner Ron Jones seit seinem Schul-Versuch im Jahr 1967. Im Film "Die Welle", der am 14. März in die Kinos kommt, wird nun Jones' Experiment in die deutsche Gegenwart verlegt. Die Botschaft bleibt dieselbe: Diktatoren haben auch heute leichtes Spiel. Redaktion: Doris Helmberger

Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts von der Judenvernichtung gewusst zu haben? Wie konnten Dorfbewohner, Bahnangestellte, Lehrer, Ärzte behaupten, sie hätten nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst? Wie konnten die Nachbarn, sogar die Freunde jüdischer Bürger sagen, sie hätten nichts davon mitgekriegt? Eine gute Frage. Ich hatte keine Antwort darauf." Ron Jones, in den sechziger Jahren Geschichtelehrer an einer kalifornischen Highschool, nennt diese Frage eines Schülers als den Ausgangspunkt eines Schulprojekts, das aus dem Ruder lief - ein Projekt, bei dem er seine Klasse am eigenen Leib spüren ließ, wie groß die Verführung eines autokratischen Systems sein kann, und das ihm zuletzt selbst fast den Boden unter den Füßen wegriss.

1980 schrieb US-Jugendbuchautor Morton Rhue den Roman "Die Welle", der auf den verstörenden Erfahrungen von Ron Jones basierte. Der Jugendroman wurde ebenso wie der 1981 entstandene gleichnamige amerikanische Fernsehfilm seither zum oft verwendeten Lehrmittel im Schulunterricht, wenn es um das Verständnis faschistoider Staatsformen ging. Am 14. März, dem 70. Jahrestag des "Anschlusses" Österreichs an Nazi-Deutschland, läuft die von Regisseur Dennis Gansel inszenierte deutsche Neuverfilmung mit Jürgen Vogel und Christiane Paul in den österreichischen Kinos an (siehe nächste Seite) - und auch dieser Film wird insbesondere in Schulvorführungen sein Publikum finden.

Es ist eine fast unglaubliche Geschichte, die Ron Jones erlebt hat - und es läuft einem kalt über den Rücken, führt man sich die Leichtigkeit vor Augen, mit der die Schüler in das Experiment hineingezogen wurden. Es war eine ganz normale Geschichtestunde an der Cubberley Highschool in Palo Alto, Kalifornien - und Ron Jones war schon früh im Semester weit mit dem Stoff vorangekommen, bis zum Zweiten Weltkrieg. Das war der Moment, in dem ein Schüler jene Frage stellte, die Jones zum Nachdenken anregte: Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts gewusst zu haben? Der Lehrer entschied sich dafür, eine Woche lang ein Experiment durchzuführen.

"Kraft durch Disziplin"

"Am Montag machte ich meine Zehntklässler also mit einem der Wesensmerkmale von Nazideutschland vertraut: Disziplin." Jones hielt seinen Schülern einen Vortrag über die Vorzüge von Disziplin, etwa im Sport, beim Tanz, in der Wissenschaft - das physische Opfer der Selbstkontrolle im Gegenzug für außergewöhnliche Leistungen. Um die Kraft der Disziplin zu veranschaulichen, probierte Jones mit seiner Klasse neue Sitzpositionen aus, korrigierte sie, ließ sie üben. Wie schnell sich die Klasse den einheitlichen Verhaltensregeln zu unterwerfen begann, überraschte ihn - und es reizte ihn, herauszufinden, wie weit er seine Schüler bringen könnte. Sahen die Schüler in den Übungen ein Spiel - oder sehnten sie sich tatsächlich nach Disziplin und Uniformität? Jones lobte zackige, rasche Antworten und ließ träge Schüler so lange wiederholen, bis sie ebenso schnell waren. Er führte strikte Benimmregeln ein, und die Klasse machte mit Feuereifer mit. Für Ron Jones, den Lehrer, war die Reaktion der Teenager, die sonst ihre Individualität sorgsam pflegten, gleichzeitig Schock und Offenbarung. "Die Schüler schienen sogar bessere Fragen zu stellen und sich gegenseitig respektvoller zu behandeln. Wie konnte das sein? Ich wollte eigentlich eine autoritäre Lernumgebung demonstrieren, aber sie schien unheimlich produktiv!" All die Vorsätze des Pädagogen von offener Klasse und selbstbestimmtem Lernen wurden auf den Kopf gestellt - und die Schüler blieben dabei: Auch Tag zwei des Experiments funktionierte reibungslos. Jones referierte über die Vorzüge von Gemeinsamkeiten, über gemeinsames Arbeiten und Feiern, darüber, dass gemeinsam mehr zu erreichen sei, im Sport, in der Gesellschaft. Die Schüler hingen an seinen Lippen - und protestierten nicht einmal, als er zum äußeren Zeichen der Gemeinschaft einen Namen, "The Third Wave" ("Die dritte Welle"), einen gemeinsamen Gruß und sogar ein weißes Hemd als Uniform einführte. Die Gruppendynamik, die die Schüler fest im Griff hatte, war längst auf den Lehrer übergegriffen. Er erinnert sich zurück: "Die Tragödie war: Ich mochte es. Ich habe die Ordnung, die Disziplin, die Bewunderung geliebt. Ich war ein Opfer meines eigenen Experiments."

"Kraft durch Gemeinschaft"

Auf Anweisung ihres Lehrers begannen die Schüler, einander zu bespitzeln. Wer über die Bewegung schlecht redete, wurde angeschwärzt. Und wer die Regeln nicht befolgte, wurde bestraft. Die Begeisterung der Geschichtsklasse blieb dem Rest der Schule nicht verborgen: Immer mehr Schüler schlossen sich der "Dritten Welle" an - bis fast die ganze Schule eine Mitgliedskarte besaß. Von Direktion und Eltern wurde das Projekt mit freundlichem Misstrauen - aber keiner echten Besorgnis - beobachtet. Und einzelne Schüler, die früher auf Grund schlechterer Leistungen oder durchschnittlichen Aussehens ignoriert worden waren, wurden plötzlich gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft. Schüler begannen, ihren regulären Unterricht zu schwänzen, nur um dabei zu sein.

Gegen Ende der Woche waren die Jugendlichen in einem solchen Zustand der Hysterie, dass ein Treffen, das Jones einberief, fast eskaliert wäre: Er teilte den Schülern mit, "The Third Wave" sei kein Experiment, sondern eine landesweite Jugendbewegung, um politische Veränderungen in Gang zu setzen. Und dann präsentierte er den aufgeregten Mitgliedern seiner Bewegung den "Führer": Einen leeren Bildschirm. Erst langsam sickerte in den Schülern die Erkenntnis, dass sie sich selbst in einen Rausch hineingesteigert hatten, der ganz ähnlich der Stimmung in Nazideutschland gewesen sein musste: "Ihr seid nicht besser oder schlechter als die Nazideutschen, die wir durchgenommen haben."

Eine Woche lang war Ron Jones der Anführer einer Gruppe Jugendlicher, die ganz genau gespürt hatten, wie es war, in einem faschistischen System zu agieren, eine besondere Gemeinschaft aufzubauen, ein an Disziplin ausgerichtetes Sozialgefüge zu schaffen - ein Modellversuch zur faschistischen Gedankenwelt, der Lehrer und Schüler verstört zurückließ, und von dem Jones überzeugt ist, er könne auch heute noch an jeder Schule funktionieren.

Mittlerweile ist Ron Jones für sein außergewöhnliches Projekt berühmt und ein anerkannter Historiker - aber kein Lehrer mehr. Er wurde der Schule verwiesen, allerdings nicht wegen des Experiments: Es war vielmehr sein Engagement für Bürgerrechte und gegen den Vietnam-Krieg, das ihn für die Schule untragbar machte.

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