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Noch zweieinhalb Jahre...

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Nur mehr zweieinhalb Jahre verbleiben bis zum Ende des europäischen Hilfsprogramms. Mit nicht geringer Sorge muß man angesichts dessen, was bisher versäumt und vertan ist und wie wenig — trotz hoffnungsvoller Ansätze — Be-völkerungs- und Wirtschaftspolitik disponiert erscheinen, aus dem Verbleibenden das Beste herauszuholen trachten und den gewaltigen Aufgaben, vor denen unsere Wirtschaft steht, ins Auge sehen.

Mehr als andere, gleichfalls vom Kriege hart getroffene Staaten leidet Österreich daran, daß es innerhalb weniger Jahrzehnte zweimal aus größeren Wirtschaftszusammenhängen herausgelöst wurde und seine Wirtschaft daher strukturelle Unausgeglichenheiten besitzt, die immer noch nicht ganz beseitigt werden könnten. Daß bisher ein großer Teil der Österreich im Rahmen des Marshall-Planes zugeführten Güter konsumiert worden ist, war wohl nicht zu vermeiden, da nur so die physischen Voraussetzungen und psychischen Antriebe zur Ingangbringung und Steigerung der Pioduktion geschaffen werden konnten. Daß ein weiterer großer Teil langfristigen Investitionen zugeführt wurde, welche die Unausgeglichenheit der wirtschaftlichen Struktur eher erhöhen als beseitigen und auf die Dauer die Leistungsfähigkeit der heimischen Wirtschaft übersteigen müssen, wäre vielleicht weniger unvermeidlich gewesen, wenn sich eine gewisse Neigung zur Autarkie und eine rein technisch orientierte Planungsmentalität gegenüber mehr wirtschaftlichen Argumenten in den ersten Nachkriegsjahren nicht so zäh behauptet hätten. Zum Teil dürften so durch Fehlinvestitionen nicht wieder gutzumachende Schäden entstanden sein, deren Umfang sich erst nach Jahren erweisen wird.

Wie der Öffentlichkeit bereits bekannt ist, ist Chefredakteur Dr. F u n d e r an schweren Herzanfällen erkrankt. Er wurde mit den hl. Sterbesakramenten versehen. Der Heilige Vater hat in einem huldvollen Telegramm seine Teilnahme bekundet und dem Erkrankten den Apostolischem Segen erteilt. Bundeskanzler Dr. Fi gl, der päpstliche Internuntius Erzbischof Dr. Dellepiane, Kardinal Dr. I n n i t-z e r, die ÖVP-Minister, zahlreiche Persönlichkeiten des kirchlichen und des öffentlichen Lebens und nicht zuletzt der ausgedehnte Leserkreis der „Furche“ haben gleichfalls ihre tiefe Anteilnahme bewiesen.

Dr. Funder befindet sich in einem Wiener Sanatorium, den Umständen zufolge von jeglichem persönlichen Verkehr abgeschlossen. Nach den letzten Nachrichten ist in seinem Befinden eine leichte Besserung eingetreten, doch ist der Zustand andauernd ernst. Die Redaktion des Blattes weiß sich mit den Freunden Dr. Funders und den Lesern eins in dem Wunsche und im Gebete um seine Gesundung.

Die dringendste Aufgabe ist heute, binnen kurzem die sichtbaren und unsichtbaren Exporte in einem Ausmaß zu steigern, daß in zwei bis drei Jahren der Ausgleich der Zahlungsbilanz aus eigenem gefunden werden kann. Soll das Defizit nicht durch eine Einschränkung des Verbrauchs, das heißt durch eine empfindliche Senkung des Lebensstandards, gedeckt werden, so muß die Produktion von Gütern und Dienstleistungen so erhöht werden, daß wir das, was wir verbrauchen müssen oder verbrauchen wollen, aus ihr bestreiten und mit ihr an das Ausland bezahlen können — wenn die Geschenke des Marshall-Plans einmal weggefallen sind.

Da eine Senkung des Konsumniveaus nach einem Jahrzehnt des Hungers und der Entbehrung als wirtschaftspolitisches Ziel unter keinen wie immer gearteten Parolen ernsthaft postuliert werden kann, bleibt nichts anderes übrig, als die volkswirtschaftliche Leistung auf das Niveau des für angemessen erachteten Verbrauchs zu erhöhen.

So weit so gut. Ist über das Ziel Einigkeit zu erzielen, so doch weniger über den einzuschlagenden Weg, beziehungsweise über die Entschlossenheit, mit der der einzige, für richtig erkannte Weg verfolgt werden muß. Die Opfer, die heute für die Vorteile von morgen gebracht werden müssen, sind vergeblich, wenn sie nur zögernd oder zu spät gebracht werden.

Als Land, dessen Importe großteils von lebenswichtiger Bedeutung sind, dessen Exporte aber traditionsgemäß und dem Gewerbefleiß seiner Bevölkerung entsprechend neben einigen Grundstoffen und Halbfabrikaten (Eisen, Holz, Papier) vorwiegend aus Erzeugnissen der Fertigwarenindustrie bestehen, und zwar weitgehend aus solchen, die für seine Handelspartner nicht oder weniger lebenswichtig sind, muß Österreich in hohem Maße daran interessiert sein, daß der internationale Handel von allen noch bestehenden Einschränkungen befreit wird. Es ist keine Frage, daß es nur bei Eingliederung in eine internationale Arbeitsteilung und nur bei einem von allen Fesseln befreiten europäischen Handel und Verkehr erwarten kann, seinen Fremdenverkehr wesentlich zu steigern und die Produkte seiner hochentwickelten Veredelung s-und Geschmacksindustrie abzusetzen. Eine Beibehaltung der heute noch offen oder getarnt bestehenden restriktiven Kontrollen und Diskriminierungen muß dagegen zu einer Einschrumpfung des Handels auf das Maß bilateraler Tauschgeschäfte und auf die Dauer zu einer Verarmung aller Na tionen führen. Liberalisierung des Handels ist daher die Forderung, die sich aus der österreichischen handelspolitischen Situation wie aus dem Verlangen der Marhall-Plan-Verwaltung, aus grund sätzlichen Erwägungen wie aus den Er fahrungen des letzten Jahrzehnts ergibt.

Es darf nicht verschwiegen werden, daß diese Liberalisierung, die letzten Endes auf eine Integration der heute noch durch hohe chinesische Mauern gegeneinander abgedichteten westeuropäischen Volkswirtschaften hinausläuft, nicht ohne politische und wirtschaftliche Problematik ist. Politisch, weil dem zukunftsträchtigen Gedanken einer europäischen Integration noch zu viele retardierende Momente in Gestalt nationaler Egoismen entgegenstehen. Von „schlechten Gewohnheiten“ der Europäer sprechen die Amerikaner, von leichtfertiger Ignorierung historischer Imponderabilien jene Europäer, die fürchten, aus der „Integration“ könne leicht eine „Gleichschaltung“ werden.

Wirtschaftlich, weil das Hinaustreten vieler im Windschallen staatlicher Protektion installierter Industrien in das rauhe Klima internationaler Konkurrenz ihre Wettbewerbsunfähigkeit erweisen und schmerzhafte Umstellungen mit Störung des ohnehin labilen sozialen Gleichgewichts erforderlich machen könnte. Da jeder wünscht, die Vorteile, nicht aber die Nachteile der Liberalisierung zu genießen (jeder möchte Luxusgüter aus- und lebenswichtige Waren einführen; jeder möchte Fremdenverkehr aus aller Welt bei sich sehen, seine eigenen Bürger aber nirgendshin reisen lassen), hier aber alles auf ein Minimum an Solidarität, auf Gegenseitigkeit und Gleichschritt im Tempo ankommt, Ist ein hoffnungsloser Zirkel entstanden, den der Marshall-Plan-Verwalter Hoffman mit drakonischen Maßnahmen („ohne Liberalisierung keine Dollars“) aufzureißen sucht, um die europäischen Völker zu ihrem Glück, das sie in Zaudern und Kurzsichtigkeit nicht finden können, zu zwingen.

Niemand kann garantieren, daß die angestrebte Liberalisierung und Integration gelingen wird, Zumal in so kurzer Zeit. Die erwähnten politischen und wirtschaftlichen Hemmnisse, die Neigung vieler Partnerländer, unter der Parole der Liberalisierung eine feinere, nach außen weniger sichtbare Kontrollmethode zu praktizieren und damit die Geduld der anderen auf eine harte Probe zu stellen — das alles stimmt nicht übermäßig hoffnungsfroh. Aber es gibt keine Alternative. Je mehr der Prozeß des Abbaues wirtschaftlicher Fiktionen und des Wachsens realistischer Einsicht fortschreitet, um so mehr ist zu hoffen, daß die Liberalisierung aus einem Ideal zu einer praktischen Notwendigkeit wird.

Österreich hat sich grundsätzlich zur Liberalisierung bekannt. Die Geschicklichkeit seiner Wirtschaftspolitik wird sich darin erweisen, ob es gelingt, im Tempo des Abbaues der Kontrollen nicht vorzuprellen und nicht zurückzubleiben. Die Neuordnung der Devisenkurse im November vorigen Jahres kann als erster Schritt auf diesem Wege angesehen werden. Wirklich leistungsfähige Betriebe haben durch sie eine Förderung erfahren. Diejenigen, die nicht mehr exportfähig sind, sollten, bevor nach lieber Gewohnheit die Polizei zu Hilfe gerufen wird, zunächst einmal über die wirtschaftlichen Gründe nachdenken. Wenn die Neuregelung zahlreiche Unzuträglichkeiten mit sich gebracht hat, so liegt das weniger daran, daß sie zu radikal, als daran, daß sie zu spät, zu vorsichtig und zu ausgeklügelt war.

Die mit Marshall-Plan-Mitteln vorgenommenen Investitionen sollen nach den Intentionen des neuernannten Leiters des ERP-Büros solchen Zweigen der Wirtschaft zugute kommen, deren Leistungen unter realistischen Preis-Kosten-Verhältnissen die Zahlungsbilanz schon kurzfristig zu entlasten versprechen. Diese Investitionspolitik, die ja letzten Endes darüber bestimmt, welches Gesicht unsere Wirtschaft in einigen Jahren tragen wird, liegt ganz in der Linie des Zieles, jene Zweige zu fördern, die natürliche Kostenvorsprünge besitzen und sich in dem zu erwartenden heißen internationalen Konkurrenzkampf werden behaupten können, nicht aber jene lebensunfähigen Betriebe künstlich am Leben zu erhalten, deren scheinbare Rentabilität nur Suventionen zu verdanken ist, für die die Gesamtwirtschaft aufkommen muß.

Mit diesen Maßnahmen wird eine großzügige Steigerung der Produktivität Hand in Hand gehen müssen. Es fällt ausländischen Beobachtern immer wieder auf, wie gering der Gesamteffekt der österreichischen Wirtschaft trotz mannigfacher natürlicher Reichtümer, trotz gewisser Standortvorteile und trotz einer intelligenten und fleißigen Bevölkerung ist. Daß hier natürliche Leistungsreserven liegen, die durch entschlossene Rationalisierungsmaßnahmen freigelegt werden können, ist jedem Einsichtigen klar. Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu sagen, daß hiebei nicht an Antreibermethoden nach bekanntem Vorbild gedacht ist. Worauf es ankommt, ist vielmehr eine Vermeidung der mannigfachen Reibungsverluste im Laufe der öffentlichen, halböffentlichen und privaten Verwaltungsmaschinerie, die Schaffung eines lei-stungsanspornenden Steuersystems und die Befreiung der Initiative durch Aufhebung antiquierter gewerberechtlicher Vorschriften.

Eine Möglichkeit ist, der Wirtschaft die Zügel freizugeben, damit der Gesamtertrag erhöht werde, eine andere, diesen Ertrag in einer Weise zu regeln, die modernen sozialen Vorstellungen — über die gar nicht so krasse Meinungsverschiedenheiten bestehen — entspricht. Stehen die Probleme der Verteilung und womöglich das Postulat der Gleichverteilung im Vordergrund, so fehlen, wie jetzt, die Anreize zu wesentlicher Leistungssteigerung. Man kann erzwingen, daß jeder gleichviel bekommt; aber dann werden bestimmt alle sehr wenig bekommen. Wird die Steigerung der Produktivität über alles gestellt, so wird sich eine Verschiebung der Einkommen anbahnen, die nicht nur den Leistungsstarken begünstigt und den Leistungsschwachen benachteiligt (was ja angestrebt wird), sondern möglicherweise auch die stärkeren Ellbogen und die größere Skrupellosigkeit prämiiert; und es wird die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung vorübergehend gefährdet werden können. Es ist, wenn nicht der Weg des geringsten Widerstandes, der wenig Konflikte, aber auch wenig Erfolge verspricht, gegangen werden soll, kein wirtschaftspolitisches Konzept denkbar, das nicht um der Fernziele willen gewisse vorübergehende Schwierigkeiten in Kauf nehmen müßte.

Keine Operation ist in diesem Stadium ohne schmerzhafte Eingriffe denkbar. Man wird bei der Beurteilung der kommenden Entwicklung wohl unterscheiden müssen zwischen notwendigen Schnitten, die faules Fleisch beseitigen und der Gesundung dienen, und solchen, die die Substanz angreifen. Es wird von Unternehmern und Arbeitern viel Einsicht und

Verantwortung verlangen, nicht jede für sie ungünstige Situation zum Beutemachen auszunützen und nicht jede für sie ungüstige Situation der Böswilligkeit des Partners zuzuschreiben.

Die Wirtschaftspolitik jedoch erwürbe sich zusätzliche Verdienste, wenn sie nicht nur überlegene Maßnahmen zu treffen, , sondern deren Notwendigkeit der Bevölkerung auch aufklärend und überzeugend darzulegen verstünde, damit das erforderliche Opfer nicht durch das Gefühl, wieder einmal düpiert wor den zu sein, verbittert und den Denn agogen das Stichwort geliefert wird.

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