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Die traditionelle Funktion

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Die musischen Gehalte noch im 19. Jahrhundert waren nicht auf eine Theorie „musischer Bildung“ gegründet. Diese Gehalte waren durch die gesellschaftliche und religiöse Kultur vorgegeben, durch die Ordnung des Kultes, in desen Dienst zum Beispiel die Lateinschule jahr-hundetelang stand; die Künste hatten ihren Ort in der Gliederung der Gesellschaft und im Ablauf ihres Lebens in Gemeinde, Kirche, Familie. Die Schule hatte nicht mehr zu leisten, als die Heranwachsenden schlecht und recht in diese Ordnung einzufügen: sie konnte sich, soweit sie sich überhaupt mit den Künsten einzulassen brauchte, auf das Unterrichten beschränken, weil außerschulische Mächte das Bilden besorgten.

Der Zusammenhang von Kunst und öffentlichem Leben ist heute gelöst. Damit entsteht für die Schule eine Aufgabe musischer Bildung von anderem Gewicht als bisher, und es ist nötig, die Bedingungen zu bedenken, unter denen sie geleistet werden muß.

Daß ein eigener Bereich freier Kunst reich ausgebildet worden ist, hat die musischen Elemente des gemeinsamen Lebens verkümmern lassen. Ihre Bedeutung für die Gliederung und Erhöhung des jahreszeitlichen Ablaufs, für die Gestaltung der familiären, bürgerlichen und politischen Feste ist, wenn nicht verschwunden, so doch stark gemindert. Der gesteigerte Bild-und Musikkonsum von heute ist kein Einwand gegen diese Feststellung, sogar eine Bestärkung; jedenfalls stellt er für die Schule neue, schwierige Aufgaben, kann man doch geradezu von einem neuen Phänomen Kitsch sprechen, entstanden durch die ungemessene Vervielfältigung bildnerischer und musikalischer Kunstwerke und ihre damit verbundene Lösung von ihrem zugehörigen Ort und folglich ihrem Ernst.

Berieselung und utopische Kraft

Die Wirkung einer unaufhörlichen Berieselung mit Musik jeder Art zum Beispiel darf nicht gering eingeschätzt werden. Musik ist eine suggestive seelische Macht und dringt in unkontrollierbare Schichten der menschlichen Existenz ein. Diese Wirkung ist keineswegs nur bedenklich bei schlechter Musik, sei es einer enthemmenden, deren Wirkung etwa nach dem Auftreten der Rolling Stones studiert werden konnte, sei es einer Musik, die mit miserablen Texten verbunden ist oder die durch ihre eigene Kümmerlichkeit als Schlagermusik oder Unterhaltungsmusik unteren formalen Niveaus den Geschmack entbildet; sie ist nicht weniger bedenklich bei hochwertiger Musik, die wahllos ständig konsumiert wird.

Mißverständnisse um die Ästhetik

Das Kunstwerk ist der utopische Blick auf die Welt — aber ohne utopische Kraft verfällt sie deterministischen Zwängen. Der Schüler hat vielleicht die religiöse Erfahrung davon, daß ihm sein Leben und sein Stück Welt auf Vollendung im Glauben hin gegeben sind; wenn seine politische Bildung gelungen ist, weiß er, daß gesellschaftliche und politische Ordnungen immer Entwürfe auf bestimmte Vorstellungen und Ideen hin sind und ständig auf ein Mehr an Zumutbarkeit hin entwickelt und also vervollkommnet werden müssen. Ihm muß dazu zur Erfahrung gebracht werden, daß künstlerisches Gestalten und Kunstwerk nicht verhüllendes Ornament dieser unvollkommenen Welt sind, die dadurch erträglich gemacht werden soll, sondern, daß das Kunstwerk die unvollendete Welt auslegt; ihrem Drang, sich zu schließen und dadurch erst unerträglich zu werden — der politische Totalismus —, entgegenwirkt und sie in neuem Entwurf auf die Weise der Kunst der Vollendung in den einer Epoche gesetzten Grenzen näher bringt. Der weite Bereich des Musischen, so leicht dem Mißverständnis des unverbindlich „Ästhetischen“ ausgesetzt, vermag, so verstanden und erschlossen, die volle Erfahrung der Menschlichkeit und Freiheit zu vermitteln. Es ist einsichtig, welche Bedeutung ihm für die Bildung zum Menschen in einer Zeit zukommt, über deren spezifische Gefahren für die Menschlichkeit uns weniger der gängige Kulturpessimismus als die jüngste Geschichte belehrt.

So verstanden und erschlossen, ist musische Bildung, die sich um die Entwicklung musikalischen Selber-tuns und des Verständnisses für Musik bemüht, zugleich Kampf gegen die Entpolitisierung des Menschen durch Musikkonsum, Immunisierung des zeitgenössischen Menschen gegen solche untergründige und daher äußerst wirksame Gefahr und Entbindung von Widerstandskräften gegen sie.

Anderseits hieße es die musische Bildung selbst verkürzen, wenn sie sich nur aus dem Widerstand begründete; die Vervielfältigungsindustrie und die Massenmedien bieten auch viele Möglichkeiten des Zugangs zu den Künsten, die früher nicht gegeben waren. Es gilt, zu ihrem richtigen Gebrauch zu erziehen. Die technischen Mittler (Band, Mikrophon, Photogerät, Filmgerät und viele andere), ein modernes Instrumentarium, neue bildnerische Techniken eröffnen Möglichkeiten, die von jungen Menschen mit Hingabe ergriffen und erfindungsreich verwendet werden. Von ihnen wird, sehen wir vom Orffschen Schulwerk ab, viel zu wenig Gebrauch gemacht. Die Beschäftigung vor allem im Musikunterricht nur mit vorgegebener Musik und die Vernachlässigung des experimentierenden und improvisierenden eigenen Gestaltens ist nicht nur pädagogisch nicht zu vertreten, sondern auch einer der Gründe für die Isolierung der musischen Bildung von der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft

Das Problem der „Moderne“

Eine spezifische Schwierigkeit der musischen Bildung heute kommt aus ihrem Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst. Diese ist so sehr experimentierend und in Bewegung, sie ist so schwer zu verstehen und — was die Musik betrifft — so schwierig zu reproduzieren, daß sie in der Schule im großen und ganzen weder lehrbar noch ausführbar ist. Die Schule kann den tiefen Graben, der sich zwischen der Kunstmusik der Gegenwart und dem Laien-musizieren oder auch zwischen der bildenden Kunst und dem Publikum gebildet hat, nicht aus eigener Kraft überbrücken. Anderseits darf man an der modernen Kunst, also an der Kunst, in der zeitgenössische Künstler sich mit unser Aller Situation und Zukunft auseinandersetzen, nicht vorübergehen. Nun hat die Schule nicht die Aufgabe, an der Spitze der Avantgarde mitzuentscheiden und mitzuexperimentieren. Aber sie schuldet ihren Schülern den Kontakt mit der gegenwärtigen Kunst. Im übrigen gilt das Gesagte nicht für alle zeigenössische Kunst.

Die Kunst- und Musikerzieher aber werden ihre seit langem erstrebte Gleichberechtigung mit andern Fächern nur erreichen, insoweit sie sich solchen Perspektiven zuwenden.

Selbst musizieren!

Allerdings muß dazu gesagt werden, daß die Schule auch mit den durchdachtesten, besten Methoden das hier Geforderte allein nicht erreichen kann. Es war bereits davon die Rede, daß der Zusammenhang von Kunst und öffentlichem Leben sich gelöst hat; die jahrhundertealte Grundlage der europäischen künstlerischen Kultur, die feudale und vor allem: die bürgerliche Gesellschaft, sind vergangen. Das bedeutet insbesondere für die musikalische Bildung einen Verlust, den die Schule allein nicht ausgleichen kann. Ohne ein bestimmtes Maß Selber-musizieren, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft weithin selbstverständlich war, muß die musikalische Bildung deflzient bleiben; auch die natürlichste musikalische Äußerung, das Singen, genügt allein nicht. Darauf ist die Jugend- und Volksmusikbewegung, der die moderne, der musikalischen Bildung angemessene Musikpädagogik zu danken ist und die ja als „Singbewegung“ begonnen hatte, sehr früh gestoßen. Der Grad der musikalischen Bildung einer Gesellschaft wird weitgehend von der Zahl der Menschen bestimmt, die, wenn auch dilettantisch, ein Instrument spielen gelernt haben; die Möglichkeiten des Musikunterrichts in der Schule und gar eines musischen Lebens dort hängen ebenfalls weithin von ihnen ab.

Dafür gibt es, wie die Erfahrungen zeigen, mehrere Wege. Die Schule kann eine größere Zahl verschiedenartiger Instrumente anschaffen, sie leihweise an Schüler ausgeben und mit geeigneten Privatmusiklehrem Vereinbarungen, meist für Gruppenunterricht, treffen; sie kann die Gründung von Jugendmusikschulen anregen, wo solche noch nicht bestehen, und mit ihnen zusammenarbeiten. Ohne die Hilfe der Gemeinden oder auch des Staates sind solche Erweiterungen des Musikunterrichts allerdings nicht möglich.

Musik und bildende Kunst

Im Bisherigen ist sichtbar geworden, daß die Fächer Musikunterricht und Kunsterziehung viel Gemeinsames haben; es ist berechtigt, sie für die Aufgabe der musischen Bildung in besonderer, wenn auch keineswegs in ausschließlicher, Weise, in Anspruch zu nehmen; es bestehen Wechselbeziehungen und Querverbindungen. Dennoch sind sie nicht austauschbar. Die Musik und die bildende Kunst sind geistige Potenzen je eigener Art.

Beide Fächer werden ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wenn sie in der Schule selbst isoliert bleiben. Sie setzen ein entfaltetes musisches Leben in der Schule voraus, Schulhäuser, in denen man atmen und menschlich leben und lernen kann, Werke der bildenden Kunst, die man betrachtend aufnehmen, Werke der Musik, die man nicht nur hörend erfahren kann, sondern selber singt und spielt.

Jedenfalls: wenn die Kunst zu den Elementen des Lebens gehört, die den Menschen menschlich machen, und wenn die Fähigkeit, Kunstwerke auf die ihnen zugehörige Weise zu verstehen und mit ihnen Umgang zu haben, eine Voraussetzung des vollen menschlichen Seins ist, dann ist unter den angedeuteten Umständen der Schule wie der Erwachsenenbildung eine Aufgabe zugefallen, der sie sich nicht entziehen können. So wie der Verfall der in Jahrhunderten bestehenden, in Österreich und Deutschland bis ins 20. Jahrhundert aufrechterhaltenen traditionellen politischen Ordnungsgefüge eine eingenständige politische Bildung unabweisbar gemacht hat, so muß eine musische Bildung zwar nicht mehr begründet, aber doch gesichert werden, welche die Zerstörung der traditionellen Funktionen der Künste in früherer Zeit wettzumachen oder doch auszugleichen vermag. Das aber ist kein leichtes Werk, wenn falsche Lösungen, wie sie in Begründungen und Ausführungen immer wieder propagiert werden, vermieden und die allenthalben feststellbaren, den Erfolg ausschließenden ressentimen-talen Reaktionen bei Musik- und Kunsterziehern überwunden werden sollen.

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