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Rosen, Rauken und Ruinen...

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AUS GRIECHENLAND STAMMT die Sage von der schwimmenden Insel Delos im Ägäischen Meer, die erst dann Ruhe und Sicherheit fand, als Apollo, der Gott des Lichtes, von seiner Mutter, Leto, auf dieser Insel geboren wurde.

Aus der grauen Vorzeit Gotlands, der großen Insel in der Ostsee, stammt eine Sage ganz ähnlicher Art: Jeden Abend versank die Insel in das Meer, und jeden Morgen wurde sie von Neuem geboren. Dann brachte Tjelvar, der Diener Thors, das heilige Feuer auf diese Insel, und das Meer wich zurück, und die Insel wurde zum festen Land.

Der Reisende, der sich an einem frühen Sommermorgen zu Schiff der Insel Gotland nähert, kann heute noch diese tägliche Wiedergeburt mit eindringlicher Kraft und Deutlichkeit erleben: Über der grauen Wasserfläche im Südosten wird ein schmaler dunkler Streifen sichtbar; er verdichtet sich, wird breiter, hebt sich langsam aus den bleigrauen Wellen, zeigt lichte und schwarze Flecken und — ganz plötzlich — eine an den Spitzen glitzernde und leuchtende Krone: die vom ersten Morgenlicht getroffenen Türme und Zinnen der Stadt Visby!

Eine Reise nach Gotland ist eine Reise nach der Mittelmeerinsel Schwedens. Dort ist immer noch etwas von grauer Vorzeit fühlbar, vom frühen Morgen der menschlichen Siedlung, vom dunklen Altertum, von den Strömungen und Gegenströmungen der Völkerwanderung, vom reichen und zugleich so blutigen Mittelalter und von der Blütezeit der Hanse. Aber diese Zeit wirkt auf Gotland ‘schon nicht mehr als ferne Vergangenheit; damals neigte sich schon der Stern des Inselstaates, und die Gegenwart ist nicht mehr als Erinnerung und Bescheidenheit.

JEDE SAGE HAT EINEN KERN von Währneff ln den letzten zehntausend Jahren, deren Spuren verhältnismäßig leicht erkennbar sind, wurde Gotland mindestens zweimal zum größten Teil vom Meer überflutet und erhob sich wieder aus ihm. Schon aus der Ancy- lus-Zeit, die der älteren Steinzeit Mitteleuropas entspricht, sind erste menschliche Siedlungen nachweisbar. Doch damals war die Ostsee ein Süßwassersee ohne Verbindung zum Weltmeer, und die Insel hatte nicht einmal die Hälfte des jetzigen Umfanges. Dann brach die Nordsee durch, und in der nachfolgenden Litorina-Zeit (so genannt nach einer Schneckenart, die nur im Salzwasser lebte) rauschten Eichen-, Erlen- und Lindenwälder auf Gotland, und ein mildes mitteleuropäisches Klima begünstigte das Entstehen einer ganzen Reihe von menschlichen Siedlungen.

Erst 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung scheint wiederum ein trockener, kühlerer Zeitabschnitt begonnen zu haben. Durch alle diese Jahrtausende unterschied sich das Schicksal in meteorologischer und bald auch in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Beziehung recht auffallend vom übrigen Norden; schon der Umstand, daß nur die letzte der großen Eiszeiten die Insel erreichte, trug sicher wesentlich zum Entstehen der Eigenart Gotlands, des Landes und seiner Menschen, bei.

Gotland ist eine Fundgrube für Geologen. Man muß nur einen Schlag mit einem Hammer an einen der vom Meer zerfressenen Kalksteinblöcke am Strand machen, und im zerbröckelnden Stein werden die seltsamsten Korallen erkennbar, Muscheln und Schnecken, eigenartige Krebstierchen, Vorfahren unserer Tintenfische, Fische und Seelilien, die man heute nur in tropischen Gewässern finden kann.

Nicht weniger als 1500 tropische Tier- und Pflanzenarten hat man in diesen Ablagerungen gefunden. Und überall stehen in der Nähe des Strandes die seltsam geformten „Rauken”, Überreste einer härteren Kalksteinart, die das Meer wie in einer pittoresken Laune zurückgelassen hat.

DIE GESCHICHTE DES MENSCHEN auf Gotland übt auf viele Besucher der Insel eine dunkle Lok- kung aus.

Der Norden Europas ist arm an geschichtlich denkwürdigen Stätten, arm an großen Baudenkmälern, arm vor allem auch an Zeugnissen der Verbundenheit mit der römischen, byzantinischen und griechischen Welt.

Gotland aber besitzt diese Zeugnisse, und seine so arm erscheinende und zugleich so unerschöpfliche Erde liefert immer neue Beweise dieser Verbundenheit, die kein Gleiches kennt im übrigen Norden.

Der Weg in den östlichen Mittelmeerraum wurde wahrscheinlich durch jene verwandten Stämme der Goten in der Gegend der Weichselmündung gefunden, die erst Byzanz eroberten und dann Rom selbst zu Fall brachten. Dieser Weg, der über Griechenland nach Rom, nach Kleinasien, sogar bis nach Persien führte, wurde von den Kaufleuten Gotlands durch Jahrhunderte offengehalten.

Dem Strom der Goten nach dem Süden folgte bald ein Gegenstrom, der kostbare Güter des Mittelmeerraumes nach dem Norden brachte. Von den etwa 600 römischen Goldmünzen, den „Solidis”, die man in Nordeuropa gefunden hat, entstammen 300 der Erde Gotlands. Von den römischen Silbermünzen aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, die in Skandinavien gefunden wurden, fanden sich siebzig von hundert auf dieser Ostseeinsel! Und schließt man in diese Rechnung die arabischen, deutschen, französischen und englischen Silbermünzen bis etwa zum Jahre 1000 ein, so ergibt das eine Zahl von 100.000 auf Gotland gefundenen Geldstücken!

Noch aus der Bronzezeit stammen die Hügelgräber, Gruftgräber und die in Schiffsform angelegten Schiffsgräber, die wohl die letzten Ruhestätten von Häuptlingen sein mögen. Man kennt auf der Insel 375 große Hügelgräber, mehr als tausend kleinere und 325 Schiffsgräber. Der größte Teil dieser Grabstätten ist noch nicht untersucht worden, doch kann man mit großer Sicherheit annehmen, daß viele (dieser Gräber von Grabräubern heimgesucht worden sind. Auch hier ergibt sich — leider — eine Parallele zu den Grabräubereien im östlichen Mittelmeerraum, wenn auch die Grabbeigaben auf Gotland bescheidener gewesen sein dürften als in Ägypten oder auf Kreta.

Die Grabbeigaben, die für die Museen gerettet werden konnten, bestehen aus Schmuckstücken und Gegenständen des „höheren Konsums” — wie man heute sagen würde.

Römische Armringe und Ketten, Broschen und Spangen, geschliffene und gefärbte Gläser, Bronzelampen und Bronzebeschläge, Trinkbecher und dünnwandige Tonbehälter. Aber daneben ist deutlich das Entstehen eines heimischen, leistungsstarken Kunsthandwerkes zu erkennen.

Eine Eigenart Gotlands sind die Bildsteine, die in Bildern die Reisen der Kaufleute und Krieger nach dem Süden und Südosten schildern. Einer der schönsten dieser Steine ist in der Kirchenwand des Gotteshauses in Bro eingemauert.

Aber schon die Steine aus der Wikingerzeit zeugen jedoch von einem gewissen Rückgang der Kunstfertigkeit, die ihre stärksten Anregungen in der Blütezeit Roms empfangen hatte und mit dem römischen Reich allmählich unterging.

DOCH GOTLANDS TAUSENDFACH belegte Geschichte besteht nicht nur aus gelungenen Beutezügen und Handelsreisen, nicht nur aus Strömen von Gold, Silber, Kristallen und Bronzen, sondern auch aus verheerenden Kriegszügen, Aufruhr, Verrat, Blut und dem Herabsinken fast zur Bedeutungslosigkeit. Und wiederum erinnert hier manches an klassische Beispiele, an die Geschichte der Bauern- und Stadtrepubliken des Altertums und des frühen Mittelalters.

Visby, reiches und mächtiges Handelszentrum des Nordens geworden, geriet in krassen Gegensatz zur armen Bauernbevölkerung des Landes. Die Patrizier der Stadt, Deutsche und Schweden, begannen, die Bauern und Plebejer vor den Toren zu fürchten. Die gewaltige Ringmauer Visbys, die stark an die Stadt Rothenburg ob der Tauber erinnert, war nicht gegen das Meer und einen von dort kommenden Feind gerichtet, sondern gegen das Hinterland der Stadt.

Im Jahre 1288 kam es zum offenen Bürgerkrieg, in dem die Bauern unterlagen. Doch das politische Geschick Gotlands bestimmte zu dieser Zeit nicht mehr die Stadt Visby, sondern deir schwedische König.

Endgültig zerschlagen wurde die alte Bauerndemokratie 1361 vom Dänenkönig Valdemar Atterdag, der die gotländischen Bauern vor den Mauern der Stadt und unter den Augen der untätig zuschauenden Bürger vernichtend schlug. Die Bauern fielen, aber auch die Stadt fiel, gedemütigt und geplündert.

Erst in diesem Jahrhundert hat man die Massengräber aus jener blutigen Zeit gefunden; sie liegen nur wenige hundert Schritte vom guterhaltenen Südtor entfernt, und sie bestätigen auf makabre Art, was bisher nur halbe Sage gewesen war. Das neuerrichtete „Valdemars-Kreiiz” zeigt die Stelle an.

Im Altertumssaal der Stadt wurden einige Teile der Gräber rekonstruiert, und sie zeigen, daß damals tatsächlich das letzte Aufgebot der Insel — Invalide, halbe Kinder und alte Männergegen die Eroberer mobilisiert worden war. Und wie in der klassischen Sage, so bedeutete auch hier der Verrat dei Helden seinen Untergang.

VIELES WAR UND IST HEUTE NOCH auf Gotland licht und schön, bunt und heiter und ansprechend. Die vielen Kirchen zeugen von Stilreinheit, Geschmack und Kunstfertigkeit. Noch heute brechen Sonnenstrahlen durch wunderbar schöne, bunte Glasfenster, die nach venezianischem Vorbild vor siebenhundert Jahren geschaffen worden sind.

Unter dünnen Kalkschichten entdeckt man immer wieder farbenprächtige Malereien. In vielen Kirchen befinden sich noch Werke der Bildhauerkunst. In den Museen liegen die zahllosen Werke der Kunstschmiede Roms, Griechenlands und Gotlands, und ringsum wirkt und webt diese eigenartige Natur der Insel, mit ihren Sandstränden, ihren schattigen Laubwäldern, dem kahlen und kargen Hochland und dem düsteren Tiefland im Süden.

Visby ist mit seinen vielen Kirchenruinen, die von Efeu und Rosen überwuchert sind, ein einziges großes Museum. Es wäre ein müßiges Beginnen, eine oder die andere Ruine, das eine oder das andere Zeugnis einer, längst vergangenen Zeit hervorzuheben.

DAS ERLEBNIS DES FESTSPIELES „Petrus de Daria”, das alljährlich im Sommer in der Ruine der mächtigen gotischen Kirche St. Nikolai aufgeführt wird, sollte kein Besucher Gotlands versäumen.

Petrus de Dacia, ein berühmter got- ländischer Mystiker und Dichter, war gegen Ende des 12. Jahrhunderts Prior im Dominikanerkloster St. Nikolai. Man glaubt, daß man sein Grab vor dem Hochaltar gefunden hat; über ihm, umgeben von den gewaltigen alten Mauern, gibt man das wohl ergreifendste Musikschauspiel, das der Norden hervorgebracht hat. Aber auch das ist ein Teil von Gotland!

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