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Adressat unbekannt...

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Ich schreibe Dir diese Zeilen, lieber Hans, ins Jenseits. Du lächelst? Das braucht es doch nicht, meinst Du? Jetzt sei Dir alles ganz durchsichtig, Du schautest in meine Seele besser als ich selber es je vermag? Ach, Hans, ich trage so viele Jahre schon eine bittere Erinnerung, eine Schuld gewiß, mit mir. Laß mich Dir erklären, jetzt, da so viele alles vergessen haben und sich ihrer Vergeßlichkeit rühmen.

Im Sommer 1942 war es: Ich schrieb Dir auf Umwegen, vom Lazarett aus, in Deine Heimatgemeinde in Vorarlberg. Damals wollte ich gut machen, was ich glaubte, wenige Jahre zuvor an Dir gesündigt zu haben. Mein Brief kam zurück: „Adressat unbekannt“. Unbekannt? Alle im Ort kannten Deinen Vater, Dein Elternhaus, das schon über zweihundertfünfzig Jahre Deine Vorfahren bewohnten. Adressat unbekannt? Ich wußte wohl, was das bedeutete.

Im Fronturlaub fuhr ich in Deine Heimat. Dort mußte ich erfahren, was ich geahnt: Deine Eltern und Du und so viele andere Deines gejagten Volkes waren eines Tages „abgeholt“ oder „verschickt“ worden. Wohin? Ich forschte weiter. Es ließ mir keine Ruhe. Spuren führten in die große Stadt. Dort seist Du als Hilfsarbeiter in einer Gärtnerei untergetaucht. Ich suchte Dich dort. Aber kein Adreßbuch, kein Polizeimeldeamt verzeichnete Deine Anschrift. Und wer sie wußte, getraute sich nicht, sie zu verraten. Keiner traute dem anderen. Es war eine schreckliche Zeit.

Ich fand Dich nicht mehr. Du hast versucht, der wahnsinnig gewordenen Heimat zu entrinnen. Radieschen, Kohl und Kraut hast Du angebaut, heimlich vielleicht auch Zierblumen gezüchtet, daran sich Deine schönheitstrunkenen Augen ergötzen durften. Spät am Abend magst Du Deine Kammer verriegelt haben, nahmst bei Kerzenschein im verdunkelten Zimmer Deine Lieblinge zu Dir, die stillen Freunde: Wilhelm von Humbold, seine Briefe und Sonette; Du sprachst Hölderlins Verse, die Du in ihren Fragmenten sogar auswendig wußtest:

„Weh' mir, wo nehm' ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen .. .*

Du ließest Dich gewiß auch gerne in die Welt Mörikes, Deines schwäbischen Freundes, versinken, und auch Kierkegaard wird Dir in Deinen Leiden beigestanden sein, ganz gewiß auch die Bibel.

Weißt Du, noch heute verwahre ich als teures Andenken von Dir Sören Kierkegaards „Christliche Reden“ in meiner Bibliothek, und während ich diesen Brief schreibe, liegt das Buch vor mir, und auf der ersten Seite ist Deine Widmung eingeschrieben, mit Deiner filigranen schrägen Handschrift: „An Feierabenden zu lesen“ mahnst Du in der Widmung. Ich hab' sie oft beherzigt.

„Bloß dieses lasse man mich sagen“, heißt es im Vorwort, „was ja in gewisser Weise mein Leben ist, meines Lebens Inhalt, seine Fülle, sein Glück, sein Frieden und seine Zufriedenheit — dieses, was der Gedanke der Menschlichkeit ist und der Menschen —, Gleichheit: christlich ist jeder Mensch, unbedingt jeder Mensch, noch einmal, unbedingt jeder Mensch Gott gleich nahe; und wie nahe, und gleich nahe, geliebt von Ihm.“

Solche Gedanken hatten Dich wohl inmitten der Wirrnis dieser Tage aufrecht erhalten. Ach, Hans, ich kann mir denken, wie Du Auge und Ohr verschließen wolltest, vor der Ankunft des Bösen, vor der so grausamen Inkarnation des Bösen!

Doch einmal entdeckten sie Dich. Deine Häscher klopften an Deine Kammertüre, hämmerten mit ihren Fäusten und Stiefeln, als Du — erschreckt, wie( Du warst — nicht gleich öffnetest. Sie nahmen Dich mit. Es war eine Elendsfahrt, und sie währte lange, die Ungewißheit Deines Schicksals quälte Dich. Dann sahst Du' die Stadt Goethes zum ersten Male in Deinem Leben und in so traurigen Umständen. Morgens um zwei Uhr kam der „Transport“ ans Ziel. „Die Alten und Kranken links heraus!“ hieß es, und Du warst dabei. Und was dann geschah? Ich sehe Deine traurigen Augen auf mich gerichtet; ich muß die Schrecknisse miterleben, solange ich im Leibe bin.

Lieber Hans! Weißt Du noch, wie wir in glücklicheren Zeiten nächtens einmal von Wien aus in die Wachau fuhren? Auf dem Donauschiff. Ein fröhliches Volk, tanzend und singend, tummelte sich um uns, bis der kühle Morgenwind die Liebespaare unter Deck verwies und wir beide allein, frierend und doch glücklich, verblieben und die nachtdunklen LIfer vorüberrauschen hörten? Erinnerst Du Dich der unvergeßlichen Stunden, da wir uns am Sonntagmorgen im Dom trafen, nach der Messe dann an die Peripherie der Großstadt fuhren und einen ganzen freien Tag durch die Wälder zogen? Wie wir dann bei der „Milch-mariandl“ einkehrten?

Erinnerst Du Dich der Badesonntage? Als wir hunderte von Metern uns auf der raschfließenden Donau tragen ließen?

Und dann kam die tumultöse Zeit. Viele jubelten in den Straßen, Jugend marschierte, Soldaten mit Stahlhelmen zogen in Marschkolonnen durch die Stadt, die ersten unserer Freunde wurden verhaftet. Da saßen wir einmal bei einem Glas Wein zusammen, und ich versuchte, die Begeisterung und den Jubel der Massen zu begreifen, und ich sprach Dir davon. Da sahst Du mich so groß an. Kein Wort kam über Deine Lippen. Aber Deine Augen waren sehr traurig. Und siehe, dieser Blick lastet auf mir, heute noch lastet er auf mir. Er durchdringt meine Vergeßlichkeit. Und ich wollte Dir doch sagen, einen Monat später schon, und dann wieder Jahre später, als ich den Rock trug, ich wollte Dir doch sagen, wie ich wirklich dachte... aber es war zu spät. Ich fand Dich nicht mehr. Nie mehr. Wie oft geschieht solches in unserem Leben, das nicht mehr gutzumachen ist! Ich klagte mich an, daß ich in dieser Zeit nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt, nicht brennender geliebt habe.

Und gestern nun, lieber Hans, kam mir ein Schriftstück eines Deiner Leidensgenossen in die Hand, dreizehn Jahre wohl nach Deinem Heimgang. Als ich zu lesen begann, blutete die alte Wunde wieder. Du könntest ja diese Worte geschrieben haben:

„Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung ... Aller Maßstäbe spotten die Greueltaten, sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar zu viele ... Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden, daß Du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern laß es anders gelten. Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugut und rechne ihnen an: all den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Liebe und alle Opfer, all die heiße Liebe... alle die durchpflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben, angesichts des Todes und fm Tode, ja, auch in den Stunden der tiefsten Schwäche... all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, daß sie von der Raserei ablassen ... daß wieder Friede werde auf dieser armen Erde über den Menschen guten Willens, und daß Friede auch über die anderen komme.

Hans, Du lächelst? Das braucht es nicht, meinst Du? Laß es mich dennoch sagen, Hans, für die lebenden Freunde: Wir wollen nicht vergessen, daß wir so viele waren, die zuwenig bekannt und zuwenig geliebt haben. Daß wir unsere Briefe mit „Adressat unbekannt“ zurückerhielten und uns zuwenig um die „Unbekannten“ kümmerten, zu viele von uns sich mit dem amtlichen Vermerk zufriedengegeben haben.

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