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Amalia Kroll...

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Bis jetzt hatte er zweiundfünfzig Fenster gezählt. Dieses Zählen sollte ihn beruhigen, aber er wußte trotzdem, daß sie in Lebensgefahr schwebte. Und nicht nur das. Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Beide waren sie gewillt, ein Verbrechen zu begehen. Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig.

Er wandte sich um und ging die zwanzig Schritte, die ihm der Lichthof In gerader Richtung möglich machte. Es war November, die Nebel hingen über den glänzenden Dächern, und die grauen Wände der Vorstadthäuser glichen der Haut eines Aussätzigen; Verputz brök-kelte herab, die Fenster hingen in der narbigen Oberfläche wie Augenhöhlen einer starrenden Masse. Hinter jedem Fenster lebte ein Schicksal, stand ein Herd, aß jemand, arbeitete, schlief jemand. Korallenbauten mit festem Außenskelett, in dem das Leben pulsierte.

Jetzt lag sie wahrscheinlich auf dem Bett.

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging die zwanzig Schritte zurück. Die feuchte Kälte schmerzte ihn auf den Ohren. In einem Winkel des Hofs hockten sechs Kinder in Kreidekreisen und warfen einander einen dunkelroten Ball zu. Kaiser, König, Edelmann; Bürger Bauer, Bettelmann. Das wechselte mit viel Geschrei wie im wirklichen Leben. Aber die Chancen waren hier noch gleich, nur die Geschicklichkeit entschied. Die Kinder sind ja klein; doch sie werden größer und drei von den sechs genannten Berufen fallen fort.

Alles wird schwerer, Aussichten und Hoffnungen geringer. Sonderbar, daß man als Kind auch auf einem solchen Hof den Kaiser gespielt hat. Kaiser...

Was konnte die Alte treiben? War sie wenigstens sauber? Verstand sie ihr Handwerk? Anna war so ein zartes Mädchen. Er müßte sich ja selber töten, wenn ihr etwas zustieße. Mit einem solchen Vorwurf konnte niemand weiterleben. Wieder zählte er die Fenster, und die Kinder spielten. Im Flur des Vorderhauses marschierte ein Bettler mit einer Drehorgel auf. Der Kasten knarrte auf verbogenen Rädern, dann quiekte er und stand still. Die Musik setzte ein. Kalter Nebel und Ächzen der Orgel im entfernten Straßenlärm. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein.“ Das gab es. Einen Himmel, mit ewiger Freude. Wie viele Fenster hatte eigentlich dieses furchtbare Haus? Zwanzig Schritte, hundertfünfzig Fenster. Vier kahle Mauern mit Löchern darin, der Lichthof wie ein Schacht, in der Ecke die Kinder. Kaiser, König, Edelmann; Bürger, Bauer, Bettelmann. „Jetzt bin ich Kaiser!“ Ja, Kinder haben Phantasie. Dann werden sie größer und stehen in solchen Hinterhöfen und halten vor einem Schild: Amalia Kroll, staatl. gepr. Hebamme. Amalia. Die kam in den Räubern vor, und die Räuber waren von Schiller, und Schiller war ein deutscher Dichter, und man hatte das alles einmal gelernt. Aber es war lange her. Und man war sehr jung gewesen, irgendeinmal, ja, man war gewiß auch ganz jung gewesen. Und hatte zwar nicht mehr an Kaiser geglaubt, auch nicht an den König und den Edelmann. Aber an den Bürger hatte man geglaubt, und daß man ein Heim haben würde und natürlich viel Geld, mit einem Dienstmädchen, das „Gnädiger Herrl“ sagte und die Besucher zur Tür hereinführte, vornehme Besucher. „Wen darf ich melden, bitte?“...

Es waren sicherlich mehr als hundert Fenster. Und jetzt öffnete sich eins im zweiten Stock und Radiomusik drang in Ballen heraus, das war amerikanische Tanzmusik, entstellt und verkrampft. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein — the greatest thing you'll ever learn — in den siebenten Himmel der Liebe — is just to love and be loved in return.“

Liebe und Himmel. Von der Liebe las man in den Büchern und vom Himmel lernte man in der Schule. Aber wie weit war dieser Himmel? Jetzt war Anna gewiß schon über eine Viertelstunde im Hinterhaus. Er stand vor dem Schild Amalia Kroll und zählte die Buchstaben. Achtundzwanzig waren es im ganzen. Ein weißes Emailschild mit schwarzer Schrift, und dort, wo man in den Ecken die Schrauben durchgestoßen hatte, war das Email abgesprungen. Ja, das Email sprang ab, von uns allen, und das gewöhnliche Elech kam zum Vorschein, trotzdem man einmal geglaubt hatte, man könnte in den großen Kreidekreis des Kaisers springen, wenn man bloß schon erwachsen wäre. Jetzt stand man im Hinterhof und Anna war bei Amalia Kroll, staatl. gepr. Hebamme. „In den siebenten Himmel der Liebe.“ Die alte Orgel stöhnte und machte unerträgliche Pausen. Warum spielte sie nicht weiter, immer hatte man Angst, sie könnte stek-kenbleiben. So schleppend wurde das Leben, und eigentlich müßte man vor sich selber ausspucken.

Die Kinder wechselten über zum Tempelhüpfen, und wieder gab es einen Himmel. „The greatest thing —“ Ja, man nannte sich Schuft und Verbrecher, aber zurück wollte man eigentlich auch nicht mehr, denn wie sollte das Leben aussehen, wenn man heiratete und das Kind war da und es gab Miete und Gas und Licht und Arbeit um das tägliche Brot. Und weggehen konnte man dann auch nicht mehr, weil ja das Kind nicht allein gelassen werden durfte. Nicht einmal ins Kino. War man denn noch ein eigener Mensch?

Zwanzig Schritte hin, zwanzig Schritte zurück. Ob die Kroll Anna sofort dran-genommen hatte? „Eine Frauensperson, die absichtlich... — macht sich eines Verbrechens schuldig.“ Gesetz des Staates. Aber gibt mir denn der Staat ein ausreichendes Einkommen? Ich pfeife auf den Staat, was geht er mich an! Und außerdem will ich noch nicht Kinder haben, ich bin ein Mensch für michl

Zwanzig Schritte hin, zwanzig Schritte zurück. Der Nebel war kalt, das Radio plärrte, die Drehorgel keuchte. Von der Straße hörte man das Tuten der Autos, das Klingeln der Straßenbahnen, und die Luft war grau und weiß wie ausgezupfte Watte. Zwanzig Schritte hin, zwanzig Schritte zurück. Nun öffnete die Hausmeisterin das Fenster und starrte ihn an, wie er da vor dem Emailschild stand. Aus dem Fenster quoll der Kohldunst und der Geruch von Petroleum. „The greatest thing —“

Die Kinder hüpften. Bis in den Himmel hinein? Es war ihr Privathimmel. Der echte hing oben, über dem Schacht aus vier Mauern; er war grau und tief und traurig. Was geschah mit Anna? Mit dem Kind, ihrem Kind? Sie würde grau sein wie der Himmel; und ausgehöhlt von Schmerz. Und vielleicht —

Da brüllte er auf und sprang durch die Toreinfahrt, rannte die Treppen empor und sah sie, wie sie dort in einer Nische lehnte, totenbleich, mit geschlossenen Augen.

„Anna!“ schrie er. „Anna! Hast du —?“

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah ihn an wie ein geprügeltes Kind und ihre Augen standen voll Wasser. „Ich bin hier stehengeblieben. Ich bin nicht hineingegangen. Ich — ich —“

Da nahm er sie bei der Hand und führte sie ohne Zögern hinunter, durch den Hinterhof, zwanzig Schritte, vorbei an dem Drehorgelmann, am siebenten Himmel, hinaus auf die Straße, wo sie in der Menge, hinter tutenden Autos, klingelnden Straßenbahnen und dem Großstadtnebel verschwanden., t

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