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An der kalten Moldau

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UNTER ALLEN REISEN in der östlichen Hemisphäre Europas ist ein Besuch in Prag das psychisch beunruhigendste Erlebnis: nirgends anderswo gerät man derart spürbar in einen dauernden Zustand ganz realer Schizophrenie. Nirgends sind die Kontraste stärker, und nirgends sonst gibt es gerade zwischen diesen scheinbar so krassen Gegensätzen makabre, gespenstische Zusammenhänge. In gemütlichen, alten Straßenbahnwagen, die in jedem Österreicher sorglose Kindheitserinnerungen wachrufen, pendelt man in Alleen voll Rilke-Stimmung mitten durch den Kommunismus. Überall in dieser Stadt trifft man Reminiszenzen einer politisch so anders gearteten Vergangenheit — die Kronen von Fürsten und Grafen an den Barockfassaden, die Heiligen vor den Kirchen, die alten Bürgerhäuser und schließlich das Fin de siecle mit seiner pompösen Stuckarchitektur. Zehn Schritte lang geht man gewissermaßen in Salzburg oder Wien und zwei in Moskau. In den freundlichen Straßenbahnwagen gibt es wie in der UdSSR seit kurzem einen Behälter, der für das Fahrgeld bestimmt ist. Die Schaffner wurden woanders „eingesetzt“. Und oben auf dem Hradschin, neben dem herrlichen Veitsdom, der die Gräber einiger Habsburger einschließt, im Palast Kaiser Rudolfs II., steht Antonin Novotnys, des Staatspräsidenten, direktes Telephon mit Moskau.

In keiner anderen Stadt der östlichen Welt hat man als westlicher Spaziergänger ein so tiefes Bedürfnis, sich wohlfühlen zu wollen. Alles ist nicht nur vertraut im Sinne oberflächlicher westlicher Assoziation, sondern wirkt besonders abendländisch durch seine Herkunft aus dem Bereich des Imperialen und Kirchlichen. Doch im Dom versucht das Regime durch das Veranstalten zahlreicher lärmender Fremdenführungen während der Messezeiten den sakralen Charakter zu zerstören und die Kirche in ein Museum zu verwandeln. Uberall sind die kunsthistorisch wichtigen Bauwerke in bestem Zustand, und Kenner erklärten mir, daß vom rein denkmal-pflegerischen Standpunkt Prag noch nie so schön gewesen sei wie heute. Aber in den Palais mit den alten Wappenzeichen haust die Bürokratie der Volksrepublik, die mit den alten Symbolen allzu gern repräsentiert und dabei eine Faux pas nach dem anderen macht. Ein sehr anschauliches Beispiel konnte ich mitansehen: In der Karls-Universität wurde der Rektor der Universität in Havanna, ein gewißer Juan Mari-nello, zum Ehrendoktor ernannt. Ein Jahr zuvor war es Louis Aragon gewesen, die politische Tendenz liegt also klar zutage. Mit Staunen musterte ich die in den historischen Festsaal einziehenden Professoren und Pedellen, die nicht nur in den alten Talaren gekleidet waren, son-

dern an der Spitze des Zuges alle ehrwürdigen Insignien der Universität vorantrugen — den goldenen Stab mit dem Kreuz und jenen mit dem Reichsapfel. Natürlich waren auch die Professoren treue Kommunisten, und als die Ansprache begann, hieß es: „Spectabiiis Genosse ...“ Nach vielen Reden, in denen die Worte Lenin und Volksrepublik immer wieder vorkamen, schritt der Zug, die Insignien voran, feierlich wieder aus der Tür. Dazu schmetterten unterm gotischen Gewölbe die Fanfaren.

SCHLENDERT MAN DIE BREITE

und ziemlich dicht befahrene Nä-rodni tfida entlang, so fällt unter anderem ein großer Auslagenkomplex auf, der merkwürdige Masken und grelle Gewänder zeigt, es ist das „Haus der kubanischen Kultur“. Kuba wird nach wie vor in der CSSR großgeschrieben, auf Moskaus Wunsch sendet man Maschinen nach der Zuckerinsel und bringt die ehrwürdige Karls-Universität in Bewegung. Geht man Donnerstags auf der Närodni tfida, dann wird man Menschenschlangen stehen sehen — aber nicht vor Lebensmittelgeschäf-

ten, sondern vor Buchläden. Zentral geplant wie alles ist auch die Buch-auslieferung, nämlich an jedem Donnerstag früh. Obwohl die Novitäten in 10.000 bis 30.000 Exemplaren erscheinen, sind sie sofort verkauft, und so macht man sich eben rechtzeitig auf die Beine. Am selben Donnerstag gibt es dann in der CSSR kein Fleisch, man hat aus Ersparungsgründen einen fleischlosen Tag eingeführt, natürlich darf es nicht der Freitag sein, da dies der Kirche entgegenkäme ...

Die Läden freilich sind voller Lebensmittel, an bald jeder Ecke gibt es außerdem Stehbüffets, überall dicht gedrängt Menschen. Man gewinnt den Eindruck, daß viel und gern gegessen wird, wenn auch im „Standard des Büffets“. Zum gediegenen Restaurant reicht es noch nicht. Die Brötchen und Süßspeisen sind übrigens vortrefflich, wenn auch einfach, und vor allem die Golatschen, Strudel, Gugelhupfe — ja, sie erinnern für einen Augenblick an die sorglose Zeit der Wiener Mehlspeisen, deren Rezepte meist aus Böhmen kamen.

AM PRAGER GRABEN gibt es noch das Stammhaus einer der be-

rühmtester Wiener Schneiderateliers, das sich übrigens auch in Wien am Graben befindet, und zwar-der Firma Knize, die sich auf eleganteste Herrenmode spezialisierte. In Prag ist freilich der Staat auch in dieses Unternehmen eingezogen und statt des einstigen Firmenschildes ist über demselben Laden, der noch in seiner Aufmachung Reste verblichenen Glanzes erkennen läßt, der schlichte Name „Adam“ zu lesen. Merkwürdig, wie in Prag alles bestimmt zu sein scheint, Symbol zu werden: vom Herrenschneider der feinsten Gesellschaft zu Adam, dem Praktiker des Feigenblatts — das hätte der witzigste Kopf nicht besser erfinden können.

Natürlich werden am Ufer der Moldau eine Menge echter politischer Witze erzählt, aber man hört sehr ähnliche in allen Oststaaten. Speziell jedoch scheint jene Anekdote zu sein, die einen sehr wichtigen Punkt in der heutigen CSSR kennzeichnet, nämlich die Haltung der Slowaken: Ein Tscheche spricht mit einem Slowaken über China, er sagt: „... und wenn sie uns mit ihren 700 Millionen den Krieg erklären?“ Der Slowake erwidert: „Du hast recht, unsere drei Millionen werden nicht wissen, wie wir sie nachher begraben sollen.“ Tatsächlich ist das Selbstbewußtsein der Slowaken sehr ausgeprägt, aber es spielt innerhalb der gegenwärtigen Situation für die Regierung eine

ganz bestimmte Rolle: aus Preßburg hört man die liberalsten Reden, dort wettert man am mutigsten gegen immer noch bestehende stalinistische Gewohnheiten. Der Staatspräsident hat mit den Slowaken die größten Sorgen und man kann annehmen, daß aus dieser Gegend noch manche Probleme für Prag entstehen werden.

WAR MAN VORMITTAGS von der Leere der Prager Kirchen erschüttert, so erfährt man am späteren Nachmittag, daß sich im östlichen Alltag auch im kirchlichen Leben andere Usancen herausgebildet haben. Wird am Morgen der Platz für die Fremdenführer geräumt, so finden die Gottesdienste eben meist gegen Abend statt. Und dann sind die Kirchen voll. Wie ich erfuhr, nimmt die Kirchentreue keineswegs ab, ganz im Gegenteil, die Zahl der Gläubigen ist im Ansteigen. Wobei gerade die Jugend durchaus zur Kirche findet, denn wer vor dem Altar steht, wer die Nachteile nicht scheut, die mit dem regelmäßigen Besuch der Kirche verbunden sind, der zeigt sich auf diese Weise mit dem großen gegnerischen Prinzip des Materialismus, mit dem metaphysischen Prinzip verbunden. In Prag an der Sonntagsmesse teilzunehmen, das verlangt Zivilcourage, und so schwer die Priester durch die ständige Gefährdung ihrer persönlichen Existenz zu leiden haben, die Kirche selbst gewinnt gerade dadurch aufrichtige Helfer.

Wenn der westliche Besucher in Prag auch glauben mag, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an. auf Grund irgendeiner falschen Weichenstellung, die ganze Wirklichkeit in die Welt Kafkas hineingeraten ist, wenn man es nach einigen Tagen durchaus für möglich hält, wie in der Kafka-Novelle „Verwandlung“ eines Morgens als Schalentier zu erwachen, so seien die weiteren psychologischen Parallelen zwischen den politischen Gegebenheiten und Franz Kafka den einschlägigen Werken vorbehalten, die gewaltiges Material vorfinden werden. Uberhaupt bietet die Literatur so manchen Schlüssel zu den östlichen Verhältnissen, wie etwa das „Absurde Theater“, das, von Prag aus gesehen, eine viel gültigere Bedeutung hat, als wir im Westen ahnen.

Doch, wie gesagt, der Prager Alltag selbst sorgt für Symbole: am Fuß des Hradschin strömt die Moldau, wie einst zu Kaisers Zeiten, man hört im Geist Smetanas Melodien, sieht auf den Booten die Angler regungslos mit der Rute in der Hand, es ist alles wie einst. Mit einem kleinen Unterschied — das Wasser wurde um 8 Grad kälter. Man hat in einer Talsperre den Abfluß unten statt oben angebracht. Zu baden ist jetzt kaum mehr möglich, denn obgleich in derselben Niederung, sind die so freundlich ziehenden Fluten eisig wie Hochgebirgs-wasser geworden. Und doch spiegeln sich in ihnen wie vor Jahrhunderten der Veitsdom, das Schloß und die Heiligen, da alte, einzige Prag.

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