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Die Welle der Suchtgifte

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Jede Sucht hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Seite. Erstere betrifft vornehmlich die medizinisch-ärztliche Ebene, letztere die soziale und seelsorgerische Dimension. In letzter Zeit wurden einige Studientagungen, Symposien und auch einzelne Vorträge abgehalten beziehungsweise gehalten, die sich mit den vielfältigen Fragen der Süchtigkeit befaßten. Sollte es in den letzten Monaten notwendig geworden sein, mit besonderem Eifer süchtige Verhalten zu studieren, gegen die einzelnen Süchte im Sinn der medizinischen Volksaufklärung unr der gezielten Fürsorge vorzugehen? Dies läßt sich nicht mit einem Satz beantworten. Sicherlich hat der allgemeine Wohlstand seit dem Kriegsende verschiedene „Wellen“ des Nachholbedarfes mit sich gebracht; jetzt sind die Genußmittel im Vordergrund; sicherlich gibt es.kleinere Kreise, die Suchtgiften erlegen sind. Statistiken zeigen im Detail medizinische Gegebenheiten (Krankheiten), menschliche Nöte (Verwahrlosung und Nobelverwahrlosung), finanziellen Aufwand, der die Budgets fürsorgerischer Einrichtungen um das Vielfache übersteigt. Was uns hier interessieren soll, sind die humanen und die religiösen Bereiche. Sucht heißt wohl Krankheit, aber eine Sucht ist nicht nur Störung im Körperlichen, sondern umfaßt den ganzen Menschen.

Sucht ist immer ein Zeichen der Unfreiheit, ein vergeblicher Lösungsversuch, ein verfehlter Selbstheilungsversuch (J. Klaesi), mit untauglichen Mitteln unternommen. Allein schon das prophylaktische Vorfeld in der Mitwelt des Süchtigen oder Suchtgefährdeten in unseren Tagen ist denkbar ungünstig. Das vielbemühte Wort der Konsumaskese beinhaltet Vorbeugung und Therapie: „Unabsehbar ist die Kraft, die dem zufällt, der auf all das verzichtet, was die Masse unbedingt benötigt, um sich selbst zu fühlen; er tritt damit in den metaphysischen Raum ein, in dem er erst zu sich selbst kommt“ (J. Bodamer).

Allen Suchtgefährdeten und allen Süchtigen gemeinsam ist das Verlangen nach Glück. Doch ist dieses je nach Persönlichkeitsartung und nach Kulturepoche verschieden. Für den einzelnen ist das Glück, das er von den „happy pills“ erwartet, recht unterschiedlich, so daß man eine gewisse Einteilung vornehmen kann. Die einen verlangen nach größerer Lebendigkeit, Steigerung der Antriebe, Abnahme der Ermüdbarkeit; sie verwenden Stimulantien; auch Jugendliche nehmen stimulierende Medikamente, allerdings aus anderen Motiven: aus Lust nach Neuem, wegen der Sensation des Verbotenen, der geheimen Rebellion, um die Leere der Langeweile zu füllen (W. Jahrreiss). Andere sind wieder ängstlich-reizbar, unsicher und gespannt; sie verlangen nach Ruhe und Entspannung. Diese wählen die Tranquillizer, von welchen das Mil-town als erstes Mittel dieser Gruppe sehr bekannt wurde. Auch dieses kann zu suchtartiger Gewöhnung führen. In dieser Gruppe werden auch die verschiedensten Schlafmittel verwendet, weil in der Ruhe das Glück gesucht wird. Freilich finden sie bloß ein vermeintliches Glück, nämlich Euphorie statt Freude, Sedierung statt erholsamer Ruhe und Ausgeglichenheit. Eine dritte Gruppe wird aus begabteren, einzelgängerischen, seelisch differenzierteren, jedoch nicht minder unausgeglichenen Menschen gebildet, vornehmlich Intellektuellen, Künstlern, die sich schwer anpassen können, die gerne in „Grenzgebieten“ leben, mit exotischem Hauch, gierig nach außergewöhnlichen Erlebnissen. Diese nehmen Phantastika zu sich, Substanzen, die eine cerebrale Intoxikation bewirken und den Vergifteten die Wirklichkeit übertreibende, verzerrende, phantastisch verfälschende Bilder, erschreckende und magische Erlebnisse vortäuschen. Zu den bekanntesten dieser Mittel zählen das Meskalin und die Lyserg-säure (Lysergsäurediäthylamid = LSD). Es handelt sich wohl um Kümmerformen magischer Rauschzustände, wie sie bei primitiven Stämmen üblich waren und sind. Charles Baudelaire ist ein früher Wortführer dieser „künstlichen Paradiese“, Aldous Huxley ein zeitgenössischer. „Alles ist neuartig und erstaunlich... der Visionäre schaut eine neue Schöpfung.“ Darin ist eine pseudoreligiöse Deutung enthalten, die immer wieder in der Psychopathologie der Süchtigkeit auftaucht: der Versuch einer Selbsterlösung, „die wie jede Selbst-erlösung in der Heil-losigkeit enden muß“ (E. Schildge). Zu den phantastischen Visionen schreibt Huxley folgerichtig: „Für einen Menschen, in welchem die .Kerze der Vision' nie von selbst brennt, ist die Erfahrung mit Mes-kalin doppelt erhellend.“

Eben wurde der Charakter einer Form der Süchtigkeit angedeutet, wie er sich vornehmlich bei Primitiven findet, nämlich das Streben, im Ekstatischen „die Grenzen des eigenen Ichs zu überspringen, um sich das Numinose zu öffnen, das Anteil an einer göttlichen Trunkenheit zu schenken vermag“ (E. Schildge). Der Charakter der Suchtformen wechselt auch im Gesellschaftlichen, nicht nur im Individuellen; die eine Form verschwindet, tritt stark zurück, wird durch eine andere im Vordergrund abgelöst. Heute sind die ekstatischen Süchte im Verblassen; die LSD-Zirkel sind zahlenmäßig und soziologisch durchaus nicht so wirksam, wie dies die Sensationszeitungen darstellen. Die, ekstatischen Formen wurden von den nihilistischen Süchten abgelöst; nicht mehr magische Verzauberung und pseudomystische Trunkenheit, sondern Vergessen und Betäubung, (chemisch bedingte) Flucht aus der Gegenwart sind die Motive. „Der große Gegenspieler Gottes, die ewige Leere, das Nichts, übt seinen verführenden Sog auf den seiner selbst überdrüssig gewordenen, von Angst gejagten Menschen aus. Das Dasein ist so sinnlos geworden, daß nicht einmal mehr im Rausch die Sehnsucht nach Leben auftaucht“ (E. Schildge). Diese Form zeigte sich vor allem im Alkoholismus der Notzeiten; auch hier gibt es eine zeitgenössische Form, den verfeinerten Alkoholismus der Wohlstandsgesellschaft, der soziologisch auch dadurch gekennzeichnet ist, daß der Anteil der Frauen erschreckend hoch geworden ist. Die jüngste Vergangenheit hat mit dem Wandel des menschlichen Selbstverständnisses auch eine Änderung in der Suchtform mit sich gebracht. Die ekstatischen und nihilistischen Formen wurden von einer rationalistischen abgelöst. „Wesentliche Gründe sind die allgemeine Überbewertung künstlicher Hilfsmittel, die ein Symbol der Halbbildung ist, der Drang nach Neuheiten auf allen Lebensgebieten, Überforderungen der Arbeitskraft und seelische Überspannungen in einem Zeitalter der Massenwirkungen“ (G. Rommeney). Diese rationalistische Form ruht in der Vorstellung von der Machbarkeit seelischer Stimmungen, von der Machbarkeit menschlicher Leistungsfähigkeit und der Erholungs-phase. Das moralische Gewissen als Maßstab für menschliche Handlungen ist abgelöst worden von einem „Leistungsgewisseri“; daher werden nach technizistischen Maßstäben die natürlichen Rhythmen gesteuert, nachgeahmt und auch durchbrochen. Demzufolge „leben wir gegen das Leben“ (O. Graf). Durch Stimulantien wird tagsüber die Leistungsfähigkeit gesteigert, durch Schlafmittel nachts der Schlaf erzwungen. Morgens muß man dann wieder ein Ermunterungsmittel nehmen, um den Rest der Schlafmittelwirkung zu überwinden, den Tag durchstehen zu können; eine Variation besteht dann in einem Tages-sedativum, um Gespanntheit, Reizbarkeit und Gereiztheit, die aus mannigfachen Überforderungen entstehen, zu dämpfen. Aber nicht nur die Leistungsfähigkeit wird chemisch eingestellt. Es kann doch Schlaflosigkeit der vegetative Ausdruck personaler Leere sein, Ausdruck von Reifungskrisen, -von Fehlhaltungen; letztere werden nicht mehr als moralische Gegebenheit gesehen; vielmehr wird deren unlustbetontes Mitschwingen im vegetativen Nervensystem medikamentös bekämpft. Unangenehmes wird dann nicht der Reifung dienen, der Läuterung und der Besinnung, sondern wird chemisch ausgelöscht. Die läuternde Kraft der Grenzsituationen wird vertan, die Ungesichertheit des menschlichen Daseins vergeudet, und wiederholt flieht man in die Pseudo-religiosität modernen Sektierertums. „Ist es nicht Verlorenheit, wenn wir das, was uns Selbstzucht und Einsicht erwerben sollten, durch die Zufuhr chemischer Präparate automatisch herstellen wollen? Ohne Bemühung! Ohne Einsatz der Person!“ (A. Böhm.) Das Streben, alles Mühevolle des Alltags, alle Ungereimtheiten des Denkens, alle Disharmonie im Gemüt in Pathologisches aufzulösen, diese Pathophilie paart sich mit dem Streben, das Leid vollauf vermeiden zu wollen, wie auch sonst die Mühe des Getanen höher eingeschätzt wird als das Werk und gleichzeitig die Improvisation, besonders deutlich in moderner Musik und darstellender Kunst, überbewertet wird. Solcherart gegensätzliche Auffassungen setzen das jeweils aktuelle Weltbild zusammen, welchem eines gemeinsam ist, die Hybris des Menschen, sich nicht mehr als von Gott abhängig zu betrachten. Von dieser Ichverschlossenheit hat prophetisch F. Ebner geschrieben — heute scheint sie in weiter Verbreitung vorhanden zu sein. Die Süchte machen diese Fehlhaltung in pathologischer Schärfe deutlich.

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