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Einsame Nacht

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Stahlgrau leuchtet der Himmel durch den Lichtschacht in die Kammer des Mannes, der vor wenigen Tagen durch ein Meer von Eisen, Blut und Wirrnisse des Geistes in die Heimat zurückgefunden hat, in eine stöhnende, zerschlagene, tote Heimat. Nur die Kammer seines ehemaligen Heimes ist ihm geblieben, der Rest ist mitsamt seinen Angehörigen an einem strahlenden Sommertag unter Donner und Feuer in die Tiefe gefahren.

Christian Dorn liegt, gewickelt in die einzige Decke, auf dem Fußboden seiner Kammer und starrt durch die noch heile Scheibe des mit Brettern verschlagenen Fensters in den Schacht hinaus. Wie spät mochte es sein? Acht, neun oder mehr? Doch die Zeit spielt in diesen Tagen keine Rolle. — Vom Morgenfrost geschüttelt, erhebt sich der Mann, wirft den Rock über, den Mantel, greift nadi den Stöcken und humpelt mit dem einen ihm verbliebenen gesunden Bein die Treppe hinunter. Auf der Straße schlägt ihm ein eisiger Wind entgegen. Den Kragen hochgeklappt, geht er, vorbei an Hausruinen und Schutthaufen, in eine Nebengasse, wo ein kleines Kaffee den Betrieb aufrechthält. Es ist der 24. Dezember.

Weihnachtszeit, denkt Christian, und die Tage seiner Jugend stellen sich zur Revue: Glodkenklang, strahlende Lichter und freudiges Lachen. Das war einmal. Aber er ist nicht traurig darob. Vielleicht, daß einmal doch wieder —

Nicht denken, Christian, jetzt nicht und nicht abends wenn aus einer fremden Wohnung ein Tannenbaum leuchtet — und die Glocken singen. Gehe weiter deinen Weg, wenn er auch klirrend kalt ist wie der heutige Tag.

Christian geht. Ihn fröstelt und der Hunger nagt. Vermummte Gestalten eilen vorüber. Woher sie kommen, wohin sie gehen? Er wendet wohl manchmal den Kopf, besonders, wenn es eine Frau ist, der die Runen eines harten Lebens unter den Augen stehen.

Weiter humpelt er, dem Stadtzentrum zu. Was er dort will, weiß er nicht. Oder doch, eben fällt es ihm ein: ein Buch will er sich kaufen, weil Weihnachten ist, irgendein schönes Buch, von Rilke etwa, oder von Werfel —

Da streift ihn ungewollt in der Enge der Straße ein Arm, eine Entschuldigung wird laut, eine Stimme, die er auch die Jahre über nicht vergessen hatte, eine Stimme aus glücklichen, hoffnungsschweren Stunden.

„Lore — du?“

„Christian!“

Dann schweigen beide, als läge eine schwere Schuld zwischen ihnen.

„Du hast wohl Furchtbares mitgemacht?“

„Bin nicht der einzige, Lore. Und du?“

Sie errötet, will gehen. Er hält sie zurück.

„Du hast mir nicht mehr geschrieben, Christian. Ich habe lange gewartet. Und dann —“

„Ida war in Gefangenschaft“, sagt er tonlos. „Leb wohl.“

Er übersieht ihre Hand und geht. Er will dodi ein Buch kaufen — weil Weihnacht ist. Aber er findet nicht das Gewünschte. Man zuckt die Achseln, bedauert, vertröstet.

Nach dem kargen Mittagessen, das er in einer Werkküche einnimmt, geht er wieder in ein Kaffee. Dort hockt er einige Stunden frierend und grübelnd über die Begegnung wie über den Sinn eines weiteren Lebens. Es dunkelt schon. Man sperrt heute früher.

Und so ist er wieder auf der Straße. Wieder nagt der Hunger und die Kälte beißt. Obwohl er kein Ziel für seinen Weg weiß, geht er und geht. Diese Tätigkeit strengt

WEIHNACHT

Maria lächelt, das Kindlein ruht, Sankt Josef träumt sich Sorgen. Zwei Hirten hielten treue Hut, Nun sind sie müde und schlafen gut. In einer Stund' ist Morgen.

Maria lächelt, die Lider schwer

Vor Mutterglück und Qualen.

Ein Windhauch weht von draußen her,

Sie schlafen — eins nur schläft nicht mehr:

Des Kindleins Augen strahlen.

Es hat im leisen Hauch vom Wind Ein Himmelsbrausen vernommen: Gott Vater kam zu seinem Kind, Und alle Engelkinder sind Mit ihm herabgekommen.--

Vorbei der Hauch, die Goüespracht! Das Kindlein weint verloren. Maria lächelt und neigt sich sacht. Das Kindlein weint... In dieser flacht Ist unser Heiland geboren.

Paul Graf Thun-Hohenstein über die Maßen an, aber sie wärmt wenigstens etwas und das tut gut. An einer windr geschützten Stelle rastet er. Wenige Menschen sind noch auf der Straße, sie alle haben es eilig auf ihrem Weg zum Fest oder auf der Flucht vor der Finsternis.

Im Weiterhumpeln — er ist schon in der Nähe seines Heimes — gleitet sein gesunder Fuß auf dem vereisten Schnee aus. Er knickt zusammen und schlägt auf den Boden hin. So bleibt er, durch einen stechenden Schmerz gezwungen, eine Weile bewegungslos liegen.

Da kommt eine Frau, die ein dreijähriges Mädchen an der Hand führt, des Weges, sieht den Verunglückten am Rande des Gehsteiges liegen und beugt sich helfend zu ihm nieder. Als er wieder auf seinem Bein steht und die beiden Stöcke in Händen hat, dankt er seiner Helferin in warmen Worten.

„Sie sind wohl sehr arm?“ fragt die Frau, „Haben Sie keine Angehörigen?“

„Doch, man erwartet mich zu Hause. Ich habe mich nur etwas verspätet.“

' „Ich hätte Sie sonst zu mir gebeten — auf einen Tee und Kuchen.“

„Nochmals herzlichen Dank, aber ich muß nach Hause, damit man nicht besorgt ist.“

Wie sich Christian zum Gehen wenden will, streckt sich ihm eine Kinderhand entgegen.

„Mutti, darf ich?“

„Selbstverständlich, Hilde.“

Und so reicht ihm das Mädchen einen großen, goldgelben Apfel.

„Nimm — armer Mann.“

Christians Hand zittert, als er nach der Gabe greift.

„Vergelt dir's Gott, Kind — Weihnachtsengel --“

Wieder in seiner Kammer angekommen, entzüdet er die letzte Kerze, stellt sie neben sich auf den Boden, dann holt er den Apfel hervor und legt ihn zum Licht, in das er lange, lange starrt. Eine heimliche Wärme durchstrahlt seinen Körper.

Was ist doch heute für ein sonderbarer Tag! Weihnacht, sagen die Menschen, erste heilige Nacht im jungen Frieden. Und mit einemmal wächst das flackernde Licht, wird größer, größer, bis es ein strahlender Baum ist, behangen mit Flitter, bunt schillerndem Fadengewirr und vielen, vielen goldgelben Äpfeln.

Da stehlen sich Tränen in die Augen des Einsamen, Tränen, in denen ein heiliger Friede schimmert.

Christian öffnet das Fenster einen kleinen Spalt, damit der Ruf der Weihnachtsglocken zu ihm dringe, dann breitet er die Decke auf, rollt sich in ihr ein und löscht die Kerze. Nach langen Jahren das erstemal spricht er ein Gebet aus seinen Jugendtagen, dann schließt er die Augen.

Und wartet auf einen wunderschönen Traum. Der Apfel, des fremden Kindes Weihnachtsgabe, liegt in seiner Hand. Gedanken kommen und gehen, Bilder seines Lebens leuchten auf und versinken, Verzicht und Hoffnung stehen gegeneinander — bis endlich das Denken in einen schweren Schlaf hinüberleitet. —

Stunden später schwingt der Klang der Glocken durch die Nacht —

Und in ihrem Jubel liegt ein großes, himmlisches Geschenk: — Friede.

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