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Herbstliche H eimhehi

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Es ist Herbst. Rötlich und frierend, seines Laubes beraubt, von den Sängern verlassen, steht der einsame Wald, durchweht vom gläsernen Summen des Nachtwinds. über den Baumwipfeln, hoch auf den Felsen, hallt ein banges Schweigen, über die fernen Grate im Norden schimmert die Ahnung und Drohung des nahenden Winters herauf.

Unter den kalten Sternen des Herbstes wandert ein einsamer, magerer Mann, schäbig gekleidet, mit wiegendem, la g- samem Schritt über das hohe Gebirge. Auf dem Rücken trägt er ein klägliches Bündel, und manchmal bleibt er stehen und fährt mit der rauhen Hand über die schweißnasse Stirn. Seiner müden Brust entringt sich von Zeit zu Zeit ein leise stöhnender Laut.

Lange Wege liegen hinter dem einsamen Mann, Wege der Sehnsucht und Wege des Leids, irgendwo aus der Ferne kommt er her, wo er lange Jahre hinter Stacheldraht verbrachte. Zur Unrechten Zeit geriet er in die Macht einer fremden Macht und wurde hinter den Stacheldraht gesetzt, um Geduld zu üben und Sehnsucht zu lernen. Und langsam schlichen die Tage, die Monate, die Jahre, und der Mann wurde müde und stumpf und entsagte nacheinander allen seinen Hoffnungen, und das Glänzende und Leuchtende seiner jungen Träume wich einer großen, gleichförmigen Trostlosigkeit. Aber dann, als er es schon fast aufgegeben hatte, noch zu hoffen — da öffnete sich der Stacheldraht vor ihm, und er begann den langen, den endlosen Weg nach Hausei Weite Umwege mußte er beschreiten und vieles ertragen, um bis hieher zu gelangen, auf die Serpentine, die heimwärts führt. Ganze Kolonnen von Sterbenden, Kranken und Toten säumten seinen einsamen Weg.

Des Waldkauzes Jagdruf schreckt ihn aus seinen umherirrenden Gedanken. Er tönt aus dem Dickicht, in dem er als junger Bursche mit schwarzbemaltem Gesicht auf verbotener Jagd den Rehbock beschlich. Hier kennt er jeden Baum, jeden Stein, jeden Strauch, der einsame Mann, hier war sein altes, freundliches Reidi, das Reich seiner Jugendzeit. Da seufzt der Mann und steht mühsam auf, wirft sich das Bündel über den Rücken und steigt weiter bergauf.

Wie er aber den höchsten Punkt des Weges erreicht und sein müder, umflorter Blick weithin im Dämmer der Sternen- nacht über das heimatliche Tal fliegt, da leuchtet das kleine Licht in der Seele des einsamen Mannes empor und wird hell und stark und füllt ihn wie ein mächtiges, flammendes Feuer aus, so daß ihm ganz schwindelig zumute wird und er sich neuerlich auf einen Baumstamm setzen muß. Und er glaubt fast zu träumen.

Ja — er hat es sich etwas kosten lassen, dieser Mann, der spät daran ist und erst jetzt wieder ins alte Tal zurückkehrtl Diesen langen Blick vom höchsten Punkt des Weges über die Berge herab hat er sich etwas kosten lassen. Denn man hatte es ihm nicht leicht gemacht. Es würgt ihn nun freilich im Halse, den Mann, und er fühlt in diesen Sekunden nichts mehr von dem Leid und dem Grauen, das hinter ihm liegt, der ganze Berg von fremder und eigener Schuld ist von ihm abgeglitten. Mit seinen rötlichen, geweiteten Augen starrt er unverwandt in das Tal hinab. Und dann beginnt er, hastig und rastlos, so schnell es der müde Körper erlaubt, talwärts davonzuwandern.

Und wie eine große und starke Melodie, wie der Klang des Windes in den Bergföhren, geht es in seiner mißhandelten Seele um und um, tiefe Bedeutung und Erfüllung entschleiern sich seinem verirrten Blick. Es ist lang nach Mitternacht, als er durch das knarrende Gartentor seines Hofes schreitet. Ach, grüß dich Gott! Knarrst du noch immer, hast dir dein altes, vertrautes Knarren nicht nehmen lassen, während eine Welt zugrunde ging, und gibst ein Beispiel, altes Tori Und er steht still und blickt über Garten und Hof, in dem es still ist und der tiefe Nachtschatten schwelt. Aber an einem Fenster sieht er noch Licht, und da schleicht er herzu und blickt hinein.

Er blickt lange zu dem Fenster hinein, und sein Herz macht einen Satz und beginnt hämmernd zu schlagen. Seine zuk- kenden Hände umklammern das grobe Gitter des kleinen Fensters.

Der Mann, der spät daran ist, was steht er nachts am Fenster und starrt ins Licht mit dem flackernden, wilden Blick des Gejagten? Warum tritt er nicht lärmend und freudig zur Tür herein in seines Vaters Haus, in seinen eigenen Hof? Was ficht den hartgesottenen Wiedergänger an? Adr, es ist ja nur das Söhnlein seines jüngeren Bruders, des neuen Herrn auf dem Hof, das er in der erleuchteten Stube sieht, und die Bäuerin, die dem kranken Kind eine Arznei gegen das Fieber eingibt. Und sein Bruder, von einem späten Gang nach Hause gekommen, steht dabei und sieht zu.

Kehre um, gehe weiter, Mann der Vergangenheit, der zu spät daran ist! Du bist ersetzt, und niemand wartet auf dich. Unanbringlich sind deine Hoffnungen, wie es die Aufträge und Briefe deiner Kameraden waren, die du auf Gräbern und verlassenen Wohnstätten abliefertest und bei Frauen, die du in neuer

Gesellschaft fandest! Ein Schatten von früher bist du, ein Unbequemer, ein Wiedergänger, ein Mann, der düstere Erinnerungen heraufbeschwört, denen man allenthalben mit Mühe entronnen ist.

Er streicht um das Haus wie der Schatten eines Verdammten, der im Grabe nicht Ruhe findet, umkreist unaufhörlich all das, was sein werden sollte und das nun einem anderen gehört. Mann der Vergangenheit, was schleichst du nachts um deines Vaters, deines Bruders Haus? Kehre zurück ins Dunkel, aus dem du gekommen, meide unsere Wege, höre auf, rastlos mit all deiner Unrast und deinen brennenden Augen unsere Ruhe zu umkreisen! Die Zeit ist nicht stehengeblieben und hat nicht gewartet, bis du sie eingeholt hastl

Er bleiibt stehen und trinkt in langen Zügen aus dem Brunnentrog. Immer schleppender wird sein Schritt. Immer verworrener sein Gemurmel. Dann bleibt er stehen. Dann blickt er zum Himmel empor. Dann schleicht er in einen Schuppen. Vorüber an der Bank, auf der der Vater die Sensen gedengelt, vor Jahren. Dann duckt er sich, nahe am trockenen Heu und Stroh, und nestelt in seinem Bündel und bringt Zündhölzer hervor und reißt eines heraus und zögert.

Aber es kräht in dieser Minute der Hahn aus dem Stall; wie ein schneidender Stahl bricht der metallische Klang in sein verworrenes, todmüdes Herz. Und wie er zum Tor hinblickt, geht ein erstes Frührotleuchten über die Gipfel und Grate der Berge hin. Länger zögert deT Mann. Der kalte Atem des Herbstmorgens haucht zum Tor herein.

Dann seufzt er auf, der einsame Mann, steckt die Zündhölzer ein und schleicht aus dem Schuppen. Im Morgennebel, ohne zurückzublicken, durchquert er den Hof. Zum letztenmal grüßt ihn das alte Knarren des Tores der Heimat. Dann wandert er langsam, gesenkten Hauptes, fernhin ins Ungewisse davon.

Sein Herz hat die Leichtigkeit der Leere gewonnen. In seinen Augen brennt ein gefährliches Licht. Hütet euch, des heimatlosen, verlorenen Mannes einsamen, verfemten Weg jetzt, lange nach Mitternacht, auf dem hohen Gebirge zu kreuzen! Geht ihm aus dem Weg, wo immer er euch begegnen mag! Was könnte ihm noch gefährlich werden, was hätte er noch zu fürchten? Was beeinträchtigt noch seine große, finstere Souveränität der Enttäuschung? Wer verfolgt seinen ungewiß schwankenden Pfad? Ob im Norden, im Süden, bei der Armee der Enterbten oder unter den Fahnen fremder Heere, in den Minen Perus oder Natals, in einem Gefängnis, einem Spital oder im glühenden Heizraum eines Atlantikkreuzers unter vielfach geschorenem Volk — irgendwo verliert sich seine gewundene Spur, und die Heimat ist um eine unbestimmte Hoffnung ärmer geworden.

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