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Gedachtnisfahrt

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Spät im Oktober; das Gras ist braun und die letzten Herbstzeitlosen stehen welk und fremd am Rain. Wo ist die Sonne geblieben, die die wundersamen Wochen dieses Herbstes vergoldete, wo die tausendfältigen Farben, die sie erfüllten? Wie konnte nur das alles so schnell vergehen! Ach, und die Fragen reißen nur neue Fragen auf. Der Himmel ist eine niedrige graue Decke, stumm und drückend; und das Land hat sich in sein Schicksal hineingefunden, schweigt und wartet...

Aber eine Bergfahrt ruft uns noch; ist uns wie eine schwere, dunkle Verpflichtung; und nun dürfen wir nicht länger warten.

Stumm, einer hinter dem anderen, steigen wir bergan. In feinen Tröpfchen hängt sich der Nebel an unsere Kleider und Haare, und der Hanf um meine Schultern fühlt sich feucht an und klamm. So still ist es ringsum; kein Vogelschrei, kein Gemsenpfiff — und das steinerne Bett des kleinen Baches, der in längst vergangenen Sommern hier lustig plauderte, liegt nun ausgetrocknet und tot. Nur die Nägel unserer Schuhe schlagen an den Stein, und die Haken und Karabiner an meiner Hüfte klirren zusammen mit jedem Schritt. Es ist alles so ganz anders heute, als es sonst auf unseren Fahrten war; und wenn wir einmal ein lautes Wort sprechen, dann erschrecken wir fast vor seinem Klang, der sich fremd in der Stille verliert. Alles ist so unwirklich; mechanisch mißt mein Fuß die Schritte, greifen die Hände an den Stein, exakt, genau abgewogen, und wie von selbst finde ich den aus einer fernen, versunkenen Zeit vertrauten Weg, wie man im Traum sicher durch vergessene Straßen schreitet. Längst haben wir den markierten Weg verlassen, durch die Platten und Rinnen des riesigen Wandvorbaues geht es aufwärts, der erste Überhang liegt hinter uns und ich weiß nicht, wie es zuging. Ich bin so ganz, ganz weit weg von dem allen; oder vielleicht — es ist ein solcher Zwiespalt in mir, daß ich, während ich jetzt Stück für Stück steige und höher komme, noch ein anderes Mal den gleichen Weg gehe, tief, tief in der Vergangenheit. Und immer geht da unsichtbar noch einer mit, redet unhörbar scherzhafte und ernste Worte und läßt hundert längst vergessen geglaubte Dinge wieder erstehen____

Dann sind wir auf der Terrasse, die hoch in der Wand eingebettet liegt, und streben der hintersten Verschneidung zu, wo zu beiden Seiten die Wände aufschießen, sich weit hinauswölben in wilden Oberhängen ... undeutlich sehen wir vor uns in der diesigen Luft den Kamin durch die mauerglatten Platten ziehen, einen unheimlichen schwarzen Spalt, der sich weiter oben im Nebel verliert. Schweigend machen wir uns fertig, ziehen die Kletterschuhe an, seilen uns an; dann steige ich in den Kamin ein.

Die Nebel steigen, in dichten weichen Bäuschen, und hüllen alles ein. Drückend lastet das Schweigen . . . einmal löst mein Gefährte einen Stein, als er fast bei mir ist; wir sehen ihn hinausfallen in das graue Nichts, hören ihn aufprallen, wenige Meter unter uns, ein gedämpfter, weicher Schlag — wir wissen, nun springt er weit hinaus, fällt — fällt — — nun schlägt er unten auf die oberste Terrasse auf--nichts. Der Nebel schluckt jeden Laut. Kein Aufschlag dringt zu uns herauf durch die brauenden Massen aus der Tiefe . . . uns wird unheimlich zumute; ist es doch, als seien nur mehr die nächsten Meter um uns wirklich, das Seil, der Stein, den unsere Hände berühren, und als sei die ganze große Welt unter uns ertrunken in dem immer noch steigenden Nebelmeer....

Nach langem erreiche ich einen kleinen Absatz im Kamin. Ein grenzenloses Gefühl des Alleinseins überfällt mich auf einmal, ich kann kaum mehr glauben, daß es noch eine Welt gibt da drunten, Täler und Städte und Menschen, zu denen ich je wieder zurückkehren könnte. Mich fröstelt. „Nachkommen!“ rufe ich hinab in den Nebel — wie hohl und dumpf die Stimme zwischen den drückenden schwarzen Wänden klingt 1 Keine Antwort“ dringt zu mir empor; aber ich spüre am Seil, daß der unten steigt. Unbewußt sichert meine Hand, läßt Meter um Meter des feuchten Hanfgeflechts zu Boden gleiten, während mein Auge/ nichts zu erkennen vermag als die nächsten paar Meter des Kamins bis zu einem Oberhang, unter dem er verschwindet, noch bevor der Blick im Grau vergeht und das Seil, das träge, ruckweise zu mir heranläuft. Gespenstisch tickt das Fallen der Wassertropfen im Kamingrund. Mir entschwindet das Gefühl für die Zeit. Wie lange stehe ich denn schon hier? Und wieviel Seil habe ich schon eingeholt, müßte es nicht längst zu Ende sein? Und ist da noch einer am anderen Ende? Die Zweigeteiltheit, in der ich die letzten Stunden gelebt habe, wird übermächtig. Wie komme ich denn überhaupt hieher? Ich weiß schon, es war unsere letzte schwere Felsfahrt und das letzte Mal für uns beide,daß wir auf diesem Berg waren, aber “das liegt doch viele Jahre zurück — da stand ich genau hier an der gleichen Stelle, und der Freund mühte sich unter mir am Überhang, stoßweiße drang sein Atem zu mir herauf .., ich schrecke zusammen: ein Geräusch dringt durch den Nebel in mein Ohr, schwer atmet da einer unter mir, kämpft sich höher und näher--ich fühle, wie meine Augen sich weiten und in den grauen Nebel stieren, nach dem Knick im Kamin dort, und wie mir das Grauen nahe ist . . . w e r kommt dort am Seil, das meine Hand noch immer mechanisch sichernd über meine Schulter führt und zu Boden gleiten läßt, zentimeterweise jetzt....

Endlich — eine Hand und ein Arm greifen über den Uberhang herauf, aus dem Nebel steigt eine graue Gestalt — kommt unhörbar heran ... schemenhaft... dann ist sie nahe, nun erkenne ich Züge, nun wird sie zur Wirklichkeit. Der Gefährte steht neben mir auf dem schmalen Gesims, schaut mich an — und ich lese in seinem Blick, daß ich nichts erklären brauche, daß er auch so schon weiß, was ich in diesen letzten Minuten — waren es wirklich nur Minuten??

— aber ein Blick auf die Uhr bestätigt es — erlebte.

Ohne ein Wort klettere ich weiter, wieder hinauf den schweren Kamin. Dann kauern wir nebeneinander auf dem kleinen Plätzchen an seinem oberen Ende, wo nach allen Seiten die Wände zur Tiefe schießen, nur wenige Meter deutlich sichtbar, ehe sie der Nebel schluckt, der nun immer dichter steigt und wallt, in quirlenden Säulen aus der grundlosen Tiefe heraufflattert wie der Rauch riesiger Fackeln, sich ausbreitet und träge hinzieht an den fahlen Steinmauern, uns lautlos immer undurchdringlicher einhüllt. Verloren drängen wir uns auf dem schmalen Raum aneinander ... schattenhaft, unwirklich, unheimlich verzerrt in der grauen Luft wuchtet über uns die Kante ins Nichts hinaus, über die der Weiterweg führt. Wie anders sah sie damals aus — schmerzend klar steht ein Bild vor mir: die Gestalt des Freundes vor der schmalen Felsschneide, schlank und dunkel, während eine große weiße Wolke dahinter sie in den Himmel hineinhob ... Nun liegt sein Leib in fremder Erde, und nur hundert Bilder aus versunkenen Tagen werden wieder lebendig auf jeder Fahrt, mahnen an ihn und an alle die alten Kameraden, die nicht wiedergekommen sind, und alte Trauer, schon geläutert und ohne den ersten heißen Schmerz, spricht vernehmlicher und vertrauter ...

Mein Gefährte hat das* schmale Heft aus der Blechkassette genommen, und wir tragen uns ein. Dann blättere ich zurück: wenige sind hier gewesen in diesen letzten Jahren

— nur ein paar Seiten: dann stehen da unsere beiden Namen; und still zeichnet meine Hand, die noch den Bleistift' hält, ein Kreuz neben den einen.

Wenig später stehen wir auf dem Gipfel; ein Händedruck sagt uns, mehr als Worte es könnten, daß diese Fahrt uns tiefer verbunden hat als jede zuvor. Ein eisiger Wind streicht von drüben, aus der Westwand herauf, und 'an unseren Kleidern hängt im Nu weißer Reif ... Ende Oktober ... rasch steigen wir ab.

Dann rollen wieder die Räder des Zugs; wir zwei stehen am Fenster und schauen zurück auf den Berg, der nur noch halb verhüllt ist in den ziehenden Schwaden — und dort hinten, wo die höheren, ferneren Gipfel fahlbleich für wenige Augenblicke auftauchen, liegt schon Schnee in trübem Weiß an frierenden Flanken. Ohne ein Wort wissen wir beide: dies war die letzte Fahrt dieses Jahres ... Bald schon, weiß ich, werden auch hier die Flocken fallen, immer dichter, immer mehr, leise, lange; werden das kleine Metallkästchen oben in der Wand mit dem Buch, in das meine Hand das Kreuz gezeichnet, einhüllen und zudecken wie die Gräber auf den Friedhöfen und in den Weiten des Ostens... und hier wie dort wird dann niemand mehr den Frieden stören. Nur der Wind wird leise flüstern von versunkenen Zeiten und von Freunden und Gefährten, die in weiter Ferne ihrer Auferstehung entgegenschlummern, wenn er um den einsamen Berg fährt, genau so, wie wenn er singend über die endlose Steppe fliegt, oder um die Kreuze in der Wüste streicht, oder wenn er hinweht über die Wellen, die über namenlosen Gräbern rauschen im Ozean.

Ihr Freunde, Kameraden, Brüder, Gefährten so vieler Tage! Wo immer ihr liegt und schlaft, nehmt meinen Gruß! Wir wandern ja unstet auf dieser Erde und finden keine Heimat mehr auf ihr ohne euch; ihr aber seid daheim.

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