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Kl eine Prulosopriie: Der erste neel

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Wir sind ein fortschrittlicher Wintersportort, müssen Sie wissen. Deshalb fällt bei uns der erste Schnee schon Ende September, Anfang Oktober, als eine Art Reklame oder so! Dann schüttelt der Briefträger, wenn er morgens ins Amt kommt, die paar Flocken ostentativ von seiner Mütze, orakelt Schlimmes und wir nicken uns höchst bedeutungsvoll zu. Und wenn er davonstampft, so ist's, als läge der Schnee im Zimmer schon halbmeterhoch. Dabei fängt es draußen erst recht zaghaft an, aber so sind wir eben! Und diese ersten kleinen Flocken rieseln uns tief in die verstaubten Seelen.

Meistens brummt dann auch schon der große Ofen in der Ecke, und so bleibt mir tatsächlich nichts übrig, als langsam zu träumen anzufangen. Zum Fenster hinaus träume ich meine kleine Philosophie vom ersten Schnee.

Das ist selbstverständlich keine contradictio in se; ich meine, eine Philosophie, die nicht geträumt wird, i s t überhaupt keine! Also schließe ich die Augen und denke mir vorerst einmal: Es ist nicht zu glauben — es ist ja völlig unmöglich! So fange ich nämlich immer an; damit schaffe ich mir erst die richtige Stimmung. Wenn ich mir denke: Es ist völlig unmöglich — es ist ja erst September! und dann die Augen weit aufmache und sehe: Es schneit tatsächlich! — dann weiß ich es aber auch mit ganzer Seele: Esschneit!

Also, es fängt ganz winzig an zuerst, und schon darin zeigt sich, daß es gut ist. Die Flocken kommen ganz langsam und klein heran, ein wenig neugierig, wie es denn sein wird, möchte ich fast sagen. Auch für sie ist's ja das erste Mal. Zaghaft und scheu scheinen sie es sich noch einmal überlegen zu wollen; rührend unentschlossen fliegen sie hin und her. Aber dann kommen schon andere, und bald werden sie keck und fröhlich wie die Kinder. Schließlich ist das ein Treiben und Wirbeln in sorgloser, schelmischer Respektlosigkeit.

Keine Schwere scheint sie zu drücken und es ist ihr freier, ungezwungener Wille, daß sie kommen. — Waagrecht umgaukeln sie den jungen Baum vorm Fenster, wie kokette Mädchen, und verwirrt streckt er ihnen seine leeren Arme entgegen, während sie ihm im letzten Augenblick zu Boden entwischen. Aber darüber lächelt er wohl nur — im Gegensatz zu uns, wenn's uns ähnlich ergeht. Schließlich bekommen auch wir noch genug der weißen Bürde auf unsere kahleren Wipfel! So geht es den ganzen Tag hindurch. Ich glaube, ich gehe sehr pünktlich heim nach Dienstschluß — so bin ich nun einmal, aber schon gar, wenn's zum ersten Male schneit. Es ist seltsam sehr Abend und dunkelt schon leise.

Der Schnee fliegt jetzt dicht und schwer. Schon liegt es überall fleckenlos.

Morgen, wenn unser Photograph eindrucksvolle Bilder von einer tiefverschneiten Landschaft gemacht und in die Stadt geschickt haben wird, werden auch die Wege, und Felder schon wieder — ohne Zusammenhang mit ihm natürlich! — schmutzig und naß sein und ein gewaltiges Husten, Schnupfen und Verschnupftsein wird sich erheben allüberall; der Schnee wird fort sein, schneller als er kam. Aber das ist ja gerade das Wunderbare: Es schneit diesem morgigen Tag zum Trotz immer weiter, ganz ruhig, ganz gelassen — es schneit selbstverständlich, möchte ich fast sagen. Die Flocken tanzen und taumeln herab: Wir fallen, fallen! Und sie fallen in einer großen Zwecklosigkeit. Aber sind nicht nur wir so, daß wir meinen, wir könnten's uns nicht leisten, auch einmal so wirklich zwecklos zu sein? Wobei wir vergessen, daß doch gerade im Zwecklosen soviel Schönes, Gutes und vor allem Reines wäre!

Haben Sie übrigens schon einmal steil in eine schneiende Nacht hinaufgeschaut? Das ist ein fast schmerzliches Auf-dich-Zukommen, ein Wirbeln und Fallen — bis plötzlich du selber anfängst zu fallen — hoch hinauf.

Schade, daß ich so gar keine Ahnung habe wie das eigentlich vor sich geht, daß es zu schneien anfängt. Aber ich stelle es mir so vor:

Da sind ein paar alte, höchst erfahrene Wolkenfrauen droben und die ziehen auf einmal ihre klugen Stirnen kraus und tuscheln und wispern und rechnen sich's schließlich an den Fingern nach: — Temperatur tadellos — iggs plus ypsilon gleich vauwäh durch drei-kommavierzehn —, Kinder, die Gelegenheit ist wahnsinnig günstig — los geht's! ■— und der Mond hinter ihnen schüttelt zwar bedenklich den Kopf, aber schon wirbeln die ersten Flocken dicht um mich herum und kichern mich an: Da staunst du aber, was? Und ich stehe mit offenem Munde da und — staune! Für gewöhnlich ist das nämlich das Ende all meiner Philosophie.

Aber dann eile ich rasch weiter und daheim in meinem Zimmer schließe ich den Vorhang. Auch das ist durchaus nicht etwa widersinnig, sondern, im Gegenteil, eine wunderbare Verrichtung, wenn man nur weiß: Draußen wird es dunkel — und es schneit! Und wenn man weiß: Draußen ist ein Gesetz und erfüllt sich. Das ist sehr tröstlich in einer Zeit wie der heutigen, daß ein Gesetz ist und sich erfüllt — langsam, lautlos, weich, und in aller Gelassenheit irgendwie auch sehr heiter.

Später muß ich natürlich unbedingt noch ein paarmal vors Haus; vielleicht schneit's schon gar nicht mehr? Aber es ist alles in Ordnung! Dann begebe ich mich zu Bett und hole mir den Stifter und lese. Sie kennen ja jene kleine Erzählung vom Bruder und seiner Schwester, die. sich verirren im Schnee. Diese Geschichte haben wir seinerzeit in der Schule mit verteilten Rollen gelesen, und es war eine Katastrophe.

Man muß sich erinnern, daß das Mädchen in der ganzen Erzählung kaum einmal etwas anderes sagt als: Ja, Konrad! Mein Nachbar las nun den Konrad, ich das Mädchen und der Lehrer den Zwischentext. Wenn dann mein Nachbar endete, schnappte ich zu: Ja, Konrad! — und der Lehrer las: ... sagte das Mädchen! Schließlich waren wir damals sehr jung und die Sache wiederholte sich wieder und wieder, bis wir einfach nicht mehr konnten. Am Ende vermochten wir kaum noch zu lesen, auch nicht mehr zu lachen; die Sache wurde abgebrochen. Noch Monate nachher lagen wir auf dem Boden und heulten, wenn einer nur: Ja, Konrad! sagte. Dann vergaß ich die Erzählung. Lange später aber, in einer traurigen Stunde, hatte ich plötzlich Sehnsucht, und es war diese Erzählung, nach der ich mich sehnte. Ich hatte keine Ruhe, bis ich das Büchlein fand, und seither habe ich sie viele Male gelesen. Immer stehe ich dann wieder gleich klein in der riesigen Schneenacht, mein kleines Schwesterchen an der Hand, inmitten der eisigen Wildnis — und fürchte mich nicht. Denn: Ja, Konrad! sagte das Mädchen! Und Großmutter hat ihnen schönes Weißbrot eingepackt und sie werden nicht hungern.

Aber Sie werden jetzt sagen, ich sei sentimental! — und da galoppiert denn der Hase endlich aus dem Stall: Sie haben recht! Aber was soll ich dagegen machen? Sehn Sie doch: Es schneit ja schon wieder — draußen — vor dem Fenster!

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