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Geistige Strömungen und kulturelle Probleme Brasiliens

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Am gleichen Tage, da die letzte Nummer der „Furch e“ hier eintraf, las ich in einer

kleinen Notiz, es sei dem großen Freunde der Indianer, General R o n d o n, gelungen, die Chavantes, einen der Indianerstämme vom Stromgebiet des Araguay-Tocantins, zu einer friedlichen Begegnung mit einer Kommission von Weißen zu bringen. Die Chavantes waren 150 Jahre lang den Weißen — und man muß nach den Erfahrungen der Chavantes sagen: mit Recht — aus dem Wege gegangen. Zu gleicher Zeit kommt aber auch schon die Nachricht von dem neuerlichen Abbruch der Beziehungen und von Feindseligkeiten, die unerfreulich sind. Chavantes, Araguaya-Tocantins ... Geistige Strömungen, kulturelle Probleme! Brasilien, 1500 entdeckt, umfaßt 8,511.190 Quadratkilometer, während das ganze Europa von seinen 9,5 Millionen Quadratkilometer spricht und über 460 Millionen Bewohner den 45 Millionen Brasilianern entgegenzustellen hat. Zwei Städte sind Millionenstädte: Rio de Janeiro, eine der schönsten, vielleicht d i e schönste 9tadt der Welt, Säo Paulo, das Industriezentrum Südamerikas, vielleicht Lateinamerikas. Im Staate Amazonas zählt man 0,2 Einwohner auf einem Quadratkilometer, in der Bundeshauptstadt 1258 und im Staate Säo Paulo 25,8. Das Flugwesen ist in raschester Entwicklung, das Eisenbahnnetz des riesigen Landes registriert etwa 35.000 Kilometer. Endlos verschwimmt die Küste; mit einem kleinen Dampfer fuhr ich von Santos bis Montevideo zehn Tage. Der Amazonasstrom fließt 3800 Kilometer auf brasilianischem Gebiet.

Die Zahlen sagen, was es bedeutet, sich der Unendlichkeit des brasilianischen Geheimnisses zu nahen und auch nur zu versuchen, in einem Aufsatz von den geistigen Strömungen und kulturellen Problemen zu reden. Man findet sich einem jugendlichen Giganten gegenüber, der sich selbst noch nicht völlig gefunden hat und auch nicht finden konnte. Es ringen in Rio, wie es mir scheint, Einflüsse der Welt mit brasili-anisdien, kämpfen in Säo Paulo nordamerikanische und europäische Einflüsse — unter diesen sogar die portugiesischen und italienischen auf Rückzugslinien. Lange, und wie hätte es anders sein können, bleibt die brasilianische Philosophie an die portugiesischen Entwicklungen gebunden; Pro-

fessor Cruz Costa geht in seinem Werke „Die Philosophie Brasiliens“ so weit, zu behaupten, daß die Geschichte der brasilianischen Philosophie nirgends diese Bindung verlasse und niemals anders gelebt habe ab von der Einfuhr der portugiesischen Ideen. Die Literatur hingegen geht mit dem Tage, die Philosophie leidet, wenn wir dem Urteil Leonel Francas folgen„ an Originalität. Der durch die Gegenreformation bestimmten Epoche folgt die Strömung, die von der Enzyklopädie bewegt wird. Ende des 19. Jahrhunderts verbergen Intellektuelle in Recife, Salvador und Minas die Bücher, die die „gefährlichen französischen Ideen“ ins Land bringen. Große Werke wachsen daraus nicht; was Frankreich auf brasilianischem Boden hervorbringt, ist eine Pamphletliteratur, oft aufrührerischen Charakters. Was zu Brasilien spridit, ist das Übersdiäumende der französischen Romantik, der sich nicht einmal die Politik zu entziehen vermag. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts setzt eine Ära ein, die man die ds „Aufruhrs der Ideen“ nennen könnte. Michel et und Quinet, Hegel, vor allem die Soziologie Auguste Comtes greifen tiefer, wie dem „Positivismus“ bis auf diese Tage immer ein Platz, nicht ganz ohne Bedeutung, gewahrt geblieben ist. Am neuen deutschen Recht und am literarischen Naturalbmus entzündet sich eine neue Epoche. Tobias Barreto de Menezes, Dichter, Kritiker und Rechtsgelehrter, 1839 bis 1889, aus Sergipe, gibt der brasilianischen Denkweise frisches Blut, versucht, sie dem Romantismus zu entreißen, der bereits stagniert, reagiert gegen den übergroßen französischen Einfluß und verfällt dem deutschen. Standhaft war er nicht, aber er war der richtige Mann seiner Zeit, Tore in eine neue Gefühlswelt zu öffnen. Silvio Romero, gleich ihm aus Sergipe. setzt sein Werk fort, Dichter, Kritiker und Geschichtsschreiber. Stärkeren Einfluß alsdie scholastische ha' keine Lehre gehabt; der Positivismus folgt in nahem Abstände. Zwischen Thomas von Aquin und Comte schwanken die Geister und Gemüter noch lange Zeit. Auguste Comte hat mit seinen Lehren bis in die letzte Zeit sogar auf die brasilianische Politik einen nicht unwesentlichen Einfluß geübt. Luis Pereira Barreto, Miguel Lemot

und Raifnundo Teixeira Mendes, der sich Joaquim nennt, aus dem Staate Maranhäo, vor allein aber Benjamin Constant BoteLho de Magalhäes, ein Mann aus Niteroi, Gründer der Republik, Verwalter mehrerer Ministerien im ersten (provisorischen) republikanischen Kabinett, der Mann vom 15. November 1889, ist ein „Comtist“. Pedro IL, ein großartiger Mann, ein liberaler Kaiser, der die „Demokratisierung“ begünstigt hat, die ihn zuletzt, innerhalb von 24 Stunden, aufs Schiff ad ins Exä gebracht hat, Sohn Pedros I. ad dessen zweiter Gattin, eiaer österreichischen Prinzessin Leopoldina, wird heute noch pietätvoll verehrt, gleich seiner öster-reichischen Mutter und gleich seiner Tochter Isabclla, die 1889 üc Sklaven befreit hat.

In der republikanischen Epoche rühmt sich Brasilien eines großen Philosophen, Farias Brito, dessen „Körperliche Veit de Geistes“ (Base fisica do espi'rito) and „Innere Welt“ vielbeachtet geblieben sind. Die „Spekulation“ findet m ihm einen würdigen Vertreter. Aa diesem Farias Brito rankt sich eine neue Generation empor, eine spirituaHstische, die schönsten Ausdruck in Jackson de Figueiredo, Pater Leoael Franca und vor allem Tristäo de Athaide findet. Tristäo de Athaide ist die große Figur des aeit-genössischen brasilianischen LaienkathoK-zisrrras, der, nicht ohne empfangen zu

haben, in geistige und seelische Nähe von Maritain und Ducatillon getreten ist. Tristäo de Athaide ist heute eine unbestrittene Figur. Er heißt Alceu Amoroso Lima und ist 1893 in Rio de Janeiro geboren. Aufgewühlt von jenen Problemen, die auch unsere Jugend erregt haben, verläßt er den Katholizismus, zu dem ihn sein Freund und Lehrer Jackson de Figueiredo zurückführt. Er ist Rechtsgelehrter, Mitglied der Dichterakadernk, Nachfolger Figueiredos als Präsident des „Ccntro Dom Vital“ und Präsident der Junta National der Katholischen Aktion. Ein deutschstämmiger Lehrer Joik Kopke hat sein Talent entdeckt, Rechtsstudien und Novellen folgen einander, er wird Buchkritiker, eine Aktivität, der er ein Niveau gibt, Biograph, ffir sein bestes Buch hält er selbst „Alter, Geschlecht und Zeit' , seine Konversion hat ihm, wie er kürzlich lächelnd sagte, nicht geschadet (wie es vorauszusetzen gewesen wäre). Eine bedeutende Erscheinung.

Lesen sollte man in Europa „O s s e r-t o e s“ (Unerforschte Lande) von E u c 1 i-des da Cunha, ein Buch, das die Respektlosen einen „Schinken“ nennen werden, wie sie den Helden des Buches, Antonio Conselheiro (von C a n u d o s), einen „sonderbaren Heiligen“ nennen könnten. Ich stehe dafür ein, daß diese wahre Geschichte dieses Unbekannten, Antonio des Dürrelandes, der mit ein paar Haufen

Hungernder zuletzt gegen eine ganze reguläre Armee kämpft, die besten Mahdi-Sudan-Romane hinter sich läßt, den Zeitproblemen nirgends aus dem Wege geht und auch an den Stellen trockenen Tatsachenmaterial aufpeitschend wirkt. Nennen wir Alberto Tor res, einen tiefen Kenner des politischen und sozialen Gebietes und der brasilianischen Realitäten, Oliveira Viana, den Interpreten der nationalen Geschichte, Pandia Calogeras, einen Mann wahrer Kultur, Nina Rodrigues, den ersten Wissenschafter, der die Neger studierte (weich unermeßliches Gebiet: die Neger von Brasilien), Gilberto Freyre, eine Leuchte, die nur nach amerikanischen, vielleicht bereits nach Weltmaßen zu messen ist, wenn man von Soziologie spricht (Abgeordneter des Parlaments), und „namenlos“ eine Serie von Namen, die drüben allzu fremd wirkten, noch keinen Klang in sich trügen und aus deren Summe wir entnehmen wollen, daß Brasilien sich mit gewaltigen Schritten vor andere amerikanische Länder schiebt, die sich ihm überlegen gefühlt hatten.

Heute ist Brasilien, wenn wir von seiner Literatur sprechen, „auf dem laufenden“ nach Raum und Zeit, heute lebt die brasilianische Literatur alle Weltprobleme, teils erschüttert und teils angerührt, mit, heute ist das Bestreben deutlich und geordnet, Welt und eigenes Land in Einklang zu bringen.

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