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„Sans toi“

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Unter dem blauen Himmel und nahe dem Strand des blauen Meeres, in einer Überfülle von gestrahltem und widergespiegeltem Licht, zog sich wohltätig dunkeldämmerig das Schattenband einer Platanenallee durch das flache Land, das sich zwischen Marseille und der Rhonemündung breitet. In der heißflirrenden Luft hing kein Vogellied, die Stille war zu völliger Klanglosigkeit verdorrt; ein Olivenhain döste stumpfgrün und eine kleine Schafherde schmiegte sich in seinen kargen Schatten.

Auf dem Flughafen Marignane, der an zwanzig Kilometer von Marseille entfernt liegt, hatte ich meinen Befehl ausgeführt und glücklich den Autobus verpaßt, den letzten für heute. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als mich darauf zu verlassen, daß mich ein stadtzufahrendes Auto mitnehmen würde; um aber nicht langweilig an einer Stelle zu warten, schritt ich die Straße lang. Ein Auto würde schon kommen. Bald hatte ich Marignane hinter mir. In der Schattenhut der Platanenallee ging es sich leichter, und ehe ich mich versah, hatte ich auch schon den nächsten Ort, Saint- Victoret, erreicht. Da ich in diesem außer einem streunenden Köter und einer huschenden Katze kein weiteres Lebewesen traf und es mich auch nicht reizte in dem einzigen ansehnlicheren Buvette ein Glas Aperitif zu trinken, hatte ich ihn ebenfalls schnell hinter mir.

Es wollte und wollte kein Auto kommen. Für diese Gegend hier oder zumindest für diese Stunde schienen sie überhaupt noch nicht erfunden zu sein. Da entschloß ich mich kurzerhand, die Schattenhut der Platanenstraße zu verlassen und die andere, ungeschützte, aber fast schnurgerade zur Bahnstation Pas-de-L,anciers führende Straße zu betreten.

Die Sonne überfiel mich mit glühendem Ungestüm. Die Straße war nur eine staubgraue Brandspur. Der Atem wollte schon tief innen in der Lunge verdorren und das Licht war schmerzend grell. Einige Hitzeschauer jagten mir über den Rücken, dann aber wär ich schon wieder daran gewöhnt und schritt sogar noch etwas schneller aus, um diese Straße bald hinter mir zu haben.

Auch meiner, Umgebung wendete ich nun, um etwas Ablenkung zu finden, mehr Aufmerksamkeit zu. Leider gab es nahezu nichts, was diese Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Flaches Land, Sommer dürre Weide, auf der nicht einmal die anspruchslosen Schafe noch einige grüne Halme fanden, hie und da eine kümmerliche Olivengruppe, etwas Ginster und einige niedrige Kakteen. Einmal schrie der Pfiff einer Lokomotive in die Stille, aber auch er war so kläglich, als wäre er nur der Hilfeschrei eines Verdurstenden.

Endlich wurde diese Eintönigkeit unterbrochen. Links von der Straße begann eine Häuserreihe, die sich, so viel ich zu sehen vermochte, langhin bis in den Ort hinein erstreckte.

Es waren nur kleine, aber sehr hübsche, zumindest. sehr eigenartige Häuser. Nicht eines glich dem andern, selbst Ähnlichkeiten stellten sich bei genauerem Hinsehen noch als Verschiedenartigkeiten heraus. Und genau so verhielt es sich mit den die Häuser umgebenden kleinen Gärten, deren Blumenpracht und Fruchtfülle an Orangen, Pfirsichen und Trauben auch nirgends Gleichartigkeiten zeigte.

Was mich aber noch mehr fesselte als dies, war die Tatsache, daß man an den Häusern nirgends Hausnummern sah, sondern jedes einen Namen hatte, der möglichst deutlich am Hause selbst, meist aber an der Gartentür oder am Zaun neben der Türe angebracht' war. Obwohl die Namensgebung kaum irgendwo originell genannt werden konnte, so fühlte ich doch auch aus so gewöhnlichen Namen, wie „Mon Repos", „Villa Heloise“ oder „Millefleurs“, etwas die Inwohner betreffendes Schicksalhaftes heraus. Mochte mancher Name auch nur der Ausdruck einer Pose sein, so wußte ich doch, daß gerade aus ihnen die verhaltenste Heimlichkeit des Lebens spricht. Es ist ja Unsinn, zu glauben, man könnte sich irgendwie von seinem Schicksal loslügen, da es auch unsere ’ Lügen noch mit seiner Wahrheit ausfüllt.

Mit Haus und Haus und Garten und Garten erlebte ich mir im Vorübergehen schnell kleine Menschenschicksale, und der Duft der Blüten und Früchte strömte wie ein seltsames, durstlöschendes und traumanregendes Narkotikum in midi ein — als ich jäh stehenblieb.

Ein kleines Haus, mattorange gefärbelt, mit blauen Fensterläden und hellrotem Dach. An der Vorderseite des Hauses' rankten traubensdiwere Weinreben empor, der Garten war eine leuditende, bewußt so gestaltete Blumenwildnis, der daraus entströmende starke Duft stand wie eine unsichtbare Mauer zwischen Straße und Haus.

Trennender noch als dieser Duft wall wirkte auf mich aber etwas anderes. An der Gartentüre hing ein schlichtes weißes Schild, das in anrufend starken, schwarzen Lettern den seltsamen Namen dieses Hauses trug, diesen Namen, der wie ein Wächter davorstand, abweisend, unfreundlich, fortweisend:

„Sans toi."

„Ohne dich!" — Nun, ich kannte den starken Individualismus besonders des Südfranzosen, dieses unbedingte Nur-selber- sein-Wollen, ich wußte aber auch, wie sehr diese Eigenheit gemildert war durch heitere Lebensart, durch tatwollendes Temperament und — durch Neugier, die immer wieder alle Tore zu jedem sich verschließen wollenden Ich aufsperrte.

Der Name dieses Hauses da aber war hart, unerbittlich, endgültig abschließend. „Sans toi“ … Ohne dich, Menschheit, ohne dich grausame, armselige, engstirnige, lügende und belogene Welt. Ohne dich, du Narrenhaus der Vernünftigen, du Wahn der Vernunft ohne Weisheit, du kümmerliche Weisheit in versteckten Winkeln! Ohne dich…

Und ich sah durch Mauern, sah einen finsteren, düsteren Mann mit einem schmalen, hageren Gesicht, in dem zwei tiefe Spottfurchen die Wangen nach den Mundwinkeln hinunterliefen, und sah eiskalte Verachtung aus zwei halbgeschlossenen Augen blitzen. Zorn und Enttäuschung hatten diesen Mann zu dem gemacht, was er war, was er bleiben wollte bis an das Ende seiner Tage, die er nicht mehr für wertvoller hielt als den Staub auf der Straße vor seinem Haus.

Und da —

Weil ich mich in der Suche nach einem Schicksal zu sehr meiner Phantasie anheimgegeben, glaubte ich im ersten Augenblick, nun von ihr genarrt zu werden, mußte wenig später jedoch erkennen, daß ich eine unantastbare Wirklichkeit schaute.

Eine Frau war durch die Haustüre herausgetreten. Und keine alte, der letzten Stille, dem sanften Verlöschen nahe Frau,

sondern eine rn 3er sommerhaften Reife ihres Lebens. Das volle Haar mit dem bronzenen Schimmer leuchtete und in der Blässe ihres Gesichtes brannte ein starkes Leben.

Ich stand vor der Zauntüre und schaute in den Garten hinein. Ich dachte gar nicht daran, mich zurückzuziehen, um nicht gesehen zu werden, so stark hatte mich der Anblick dieser Frau erfaßt.

Diese schritt nun tiefer in den Garten hinein. Alle ihre Bewegungen waren von einer weichen, abgerundeten Anmut, doch war irgendwie etwas Suchendes, Tastendes in ihnen. Diese ganze Frau rief nach dem Leben und das Leben rief nach ihr.

Da aber stand: „Sans toi" —

Nun beugte sich die Frau vor einem Blumenbeet nieder. Streichelnd, liebkosend glitt ihre Hand über die Blüten, hielt eine ganz sanft in der Hand, ließ sie los, nahm eine andere, pflückte aber keine; es war ein zärtliches Spiel zwischen Frauenhand und Blüten. Suchender Schönheitssinn und kaum verhaltende Zärtlichkeit einer Mcnschenseele.

Warum dann: „Sans toi“?

Die Frau richtete sich wieder auf. Noch immer stand ich vor der Gittertüre und schaute in den Garten hinein.

Dann machte die Frau eine kleine Wendung und — nun mußte sie mich sehen. Ihr

Blick nahm Richtung auf mich. Was sollte ich sagen, wenn sie mich fragte, warum ich dahier stünde und auf sie starrte? Es war ohne Zweifel ungehörig, unzart; trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, schnell weiterzugehen.

Jetzt ruhte der Blick der Frau auf mir …

Dunkle, tiefe Augen, groß und leuchtend, sanfte Architektur der Brauen darüber, eine klare Stirne …

Der Blick dieser Augen ruhte auf mir — nein, er ruhte nicht, er ging an mir vorüber, ging durch mich hindurch in die Ferne, in eine Endlosigkeit ohne Rand und …

Da sah ich auch: diese schönen Augen hatten keinen inneren Ausdruck, waren nur leuchtende Leere, schimmernde Verlorenheit in ewigem Dunkel. Diese Frau — war blind…

Langsam drehte sie sich um und ging zurüdc in das Haus. Sie war wohl nur herausgekommen, um ein wenig mit ihren Blumen zu spielen, und sie kehrte nun zurück in ihre Welt nachtewiger Einsamkeit, in ihr „Sans toi“, in ihr „Ohne dich“; du bunte, leuchtende, liebende und leidende, du herrliche und schreckliche, grausame und wundervolle, ewig brennende und ewig verlöschende Welt.

Mit einem kleinen Schmerz im Herzen schritt ich weiter …

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