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Geschichtsschreibung und Patriotismus

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An einem der letzten Sprechabende der historischen Arbeitsgemeinschaft in der Wiener Katholischen Akademie stand, angeregt durch einen im Jahrbuch der Gör-res-Gesellschaft veröffentlichten Vortrag Johannes S p ö r 1 s : „Neue Orientierung in der historischen Forschung?“ die Frage zur Erörterung, inwieweit der Geschichtsschreiber seinem Vaterland dienen müsse, inwieweit er ihm dienen dürfe.

Es kann natürlich, so merkt Spörl ganz richtig an, keinerlei Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß es in jedem Falle oberste Richtschnur für den Historiker sein muß, „wie es eigentlich gewesen“, aber ebensowenig darüber, daß vernünftigerweise an die Geschichtswissenschaft nicht die Forderung einer nichtexistenten Vor-aussetzungslosigkeit gestellt werden kann. Auch innerhalb Rankeschem Objektivitätsbemühen bleibt für ein bewußtes Zeigen oder unbewußtes Durchbrechen von Zuneigung und Ablehnung noch ein, wenngleich bescheidener Spielraum, der nur durch das Gewissen des Historikers ausgegrenzt wird. Und gerade dieses verhältnismäßig enge Gezirk zwischen Wahrheitspflicht und personbedingter Liebe — wie leicht werden seine Grenzen mißachtet, wie oft hat man sich über sie hinweggesetzt — ist das Feld, auf dem der Geschichtsschreiber seine patriotische Pflicht erfüllen kann.

Sie würde aber schlecht erfüllt, wenn er glaubte, ausschließlich jene Epochen der vaterländischen Geschichte für seine Darstellung wählen zu sollen, deren Geschehen es leicht macht, Begeisterung zu wecken, den freudigen Stolz, Bürger gerade dieses Landes zu sein, zu begründen. Nein, er muß sein Volk auch in die bedrückende Düsternis jener Tage zurückführen, da ein schweres Schicksal ein ihm vielleicht nicht gewachsenes Geschlecht traf. Und gerade im Urteil über solche Zeiten und ihre Menschen wird er seine Vaterlandstreue zu erweisen haben: so hart auch der Spruch sein mag, den er auf Grund seiner Erkenntnis fällen zu müssen glaubt, nie darf er sich im Negativen erschöpfen, immer muß er getragen sein von Liebe, die sich spiegelt in dem Schmerz über das Unglück — auch wenn es selbstverschuldet ist —, das sein Volk getroffen. Der Geschichtsschreiber hat zu urteilen, aber nicht abzuurteilen, er muß die Vergangenheit, die er darstellt, noch einmal erleben, ja erleiden, dann wird sie auch vor seinen Lesern wieder lebendig werden und wird ihre Herzen erfüllen, so wie sie das seine erfüllt hat.

In Zeiten, wie es die jetzigen sind, werden vorweg die großen Zusammenhänge aufzuzeigen sein. Das heißt nicht, die Einzelforschung beiseiteschieben, wohl aber jene Zeiträume in der Darstellung der eigentlichen Geschichtsschreibung bevorzugen, für die bereits ausreichendes Material vorliegt, Material, das nur auf seine Zusammenfassung wartet. Denn nicht die Emsigkeit im Aufspüren neuer Quellen, sondern nur das Umreißen der großen Linien, die aus der Vergangenheit mitten hineinführen in das von dunklem Gewölk noch verhüllte Kommende, kann aus der Geschichte nach Dosto-jewskijs Forderung „die Wissenschaft von der Zukunft“ machen. Und diese Aufgabe, Führerin zu sein auf dem Zukunftsweg unseres Volkes, ist wohl die wesentlichste, die der Geschichtswissenschaft in der Jetztzeit gestellt ist.

Um wirken zu können, braucht aber der Geschichtsschreiber das Ohr des Volkes. Hat er es heute? Hat er es im besonderen in Österreich? Nein. Das muß mit tiefem Bedauern, aber doch in aller Offenheit gesagt werden. Am ehesten besteht noch Interesse für Landesgeschichte, für die Geschichte der einzelnen Bundesländer in diesen Ländern selbst; Vorträge über gesamtösterreidii-sche Geschichte finden nur wenige Hörer, Bücher, die geschichtliche Themen auf wissenschaftlicher Grundlage behandeln — bei der sogenannten historischen Belletristik liegen die Dinge ungleich günstiger —, sind häufig für den Verleger ein Verlust. Wenn ein Werk wie Hugo Hantschs „Geschichte von Österreich“, das ein für den Geschichtsschreiber und den Mann im öffentlichen Leben gleich unentbehrliches Handbuch darstellt, gekauft wird, beweist das noch nichts für das historische Interesse weiterer Kreise, und eine Schwalbe macht leider noch lange keinen Sommer! Was Wunder, daß die Verleger in zunehmendem Maß in diesem Zweig literarischen Schaffens Zurückhaltung üben. Das 99. „Werk“ über flie „wahren Hintergründe“ der Tragödie von Mayerling wird seinen Verlag und seinen Absatz finden, die Arbeit des ernsten Historikers, der mit „Sensationen“ nicht aufwarten kann, wird, oft genug schon im Manuskript, liegenbleiben. Hier kann nur planmäßige Erziehung der Leserschaft durch Presse und Rundfunk und eine Spreu und Weizen klug scheidende Kulturpolitik der österreichischen Verlage den Weg bereiten helfen.

Am österreichischen Historiker liegt es nicht oder doch nicht in erster Linie, wenn die Staatsführung der starken Hilfe, die er zu bieten hätte, heute noch vielfach ent-raten muß. Es stünden Kräfte bereit, auch schon aus der jungen Generation, die die •Geschichte der letzten anderthalb Jahrzehnte buchstäblich durchlitten hat, aber sie ermangeln der Möglichkeit, zu sagen, wie s i e die österreichische Vergangenheit sehen und welche Sendung (ein vielmißbrauchtes Wort) s i e diesem neuen Österreich zusprechen.

Freilich, Geschichtsschreibung im heutigen Österreich hat noch eine besondere Schwierigkeit. Sie spricht zu einem politisch stark zerklüfteten Volk. Und gerade ein objektiv geschriebenes Werk läuft Gefahr, von Links und Rechts abgelehnt, bestenfalls totgeschwiegen zu werden. Solange eine große politische Partei die Geschichte der österreichischen Monarchie sozusagen grundsätzlich negiert, weil sie „habsburgisch“ ist, und für eine andere Partei die große Vergangenheit unseres Landes oft nicht viel mehr als eine romantische Arabeske ist, mit der man sich bei festlichem Anlaß schmückt, die man aber nach Gebrauch wieder in die Lade legt, solange die politischen Parteien die österreichische Geschichte nicht als den naturgewachsenen Boden, dem mit dem Gesamtvolk auch sie entsprossen sind, anerkennen, solange wird die österreichische Geschichtsschreibung nicht gedeihen! Es tut der republikanischen Gesinnung des heutigen Österreichers keinen Abbruch, wenn er die Größe einer Maria Theresia, die heute immer stärker heraustretende Leistung Franz Josephs und auch das reine, edle Wollen Kaiser Karls anerkennt, ,und es bedeutet andererseits auch nicht Pietätlosigkeit gegenüber der Vergangenheit, wenn heute das Eingreifen des Staates in den Glaubenskampf auch in der katholischen Geschichtsschreibung eine andere Wertung erfährt als noch vor fünfzig Jahren, wenn zudem die österreichische Kirchengeschichte unter die gleiche kritische Sonde genommen wird wie die polische oder wenn auch bei so hervorragenden Gestalten wie etwa dem großen Bürgermeister Dr. Karl Lueger oder dem Kanzler Dr. Ignaz Seipel Gefahr und Grenzen ihrer Genialität aufgezeigt werden. Die glanzvollen Tage so gut wie die von Unglück erfüllten sind unser Erbe, und wir tragen dieses Vermächtnis in uns, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, und nur der wird über die „Sendung“ unserer Heimat etwas aussagen können, der die G e-sa m t h e i t ihrer Geschichte in sich aufgenommen hat. Wenn das etwas gefährliche Wort von der aktiven oder lebendigen Geschichtsschreibung einen tragbaren Sinn haben soll, dann kann es nur der sein, daß die Erkenntnis der Vergangenheit unsere Gegenwart verständlich macht, unseren jetzigen Standort erhellt und uns einen gesunden Optimismus einflößt — allein schon durch den Gedanken, wieviel an Leid und Not unsere Heimat schon siegreich überstanden hat. Die politischen Parteien müssen mitwirken an der Bereitung des Ackers, dann erst kann der Same, den der Historiker zu streuen bereit ist, tausendfältige Frucht tragen.

Viele Anregungen und manche Sorge, leidenschaftlicher Arbeitswille und enttäuschte Hoffnungen, selbstlose Begeisterung und nüchternes Tatsachenurteil —• Gegensätzlichstes fand in der Aussprache der Arbeitsgemeinschaft seinen Ausdruck, über alle Ungewißheit des unmittelbaren Erfolges aber siegte der Entschluß, unbeirrbar in der Arbeit fortfahren, so, als wäre die Furche schon aufgeworfen, die neue Saat schützend zu bergen.

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