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Das dritte Österreich

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Als es von der Landkarte verschwunden war, entstand Österreich aufs neue: nunmehr als geistige Realität, als seelischer Zustand, als Selbstbehauptung unausrottbarer Instinkte. Es entstand hier und dort, in Einzelpersonen, in kleineren Zirkeln, in größeren Gruppen. Es entstand mit einer Intensität, wie sie vor dieser Zeit nur selten im deutschsprachigen Kernland erlebt worden war, und es entstand — was wohl der erstaunlichste Aspekt dieses geschichtlich erstaunlichen Vorgangs ist — in dreifacher Form.

Da war fürs erste das langsame und fast unmerkliche Sich-Besinnen jener, die jetzt fremde Uniform trugen und eines Tages begriffen, daß diese Uniform (und auch alles andere ringsum) dem Wesen des als Österreicher Geborenen, der sie trug, widersprach. So sehr widersprach, daß Abgrenzung, Distanz, innerliches Ausgesondertsein auf dem Wege durch die unteren Kreise der Hölle schließlich zur letzten Chance wurden, die Seele zu retten.

Da war zum zweiten der leidenschaftliche, nach den Märztagen des Jahres 1938 kaum mehr verstandesmäßig begründbare, sondern fast schon zur Zwangsvorstellung gewordene Widerspruch jener, die Österreich vorher schon bejaht und gewollt hatten, die nun der zermalmenden Wucht des nationalsozialistischen Betonklotzes ihre ameisen-haft winzigen, aber fanatischen Widerstandshandlungen (irgendwelcher Art) mit so elementarer (heute kaum mehr nachvollziehbarer) Selbstvergessenheit entgegensetzten, daß ihnen Verfolgung, Kerker, Konzentrationslager, einigen am Ende sogar das Fallbeil oder der Genickschuß, als logische Konsequenz eines schicksalhaften inneren Müssens erschienen.

Zum dritten aber entstand Österreich aufs neue im Kreise jener Flüchtlinge und Emigranten, denen das Wissen um die verlassene Heimat nach der Überwindung des ersten Schocks zum Ruf des (einsamen) Gewissens geworden war (denn auch sie waren ja Einsame). Von diesem dritten Österreich, dem Österreich, das in der Fremde und im Widerspruch zu ihr geboren wurde, ist hier die Rede. In der Herold-Sammlung „Das einsame Gewissen“ erschien Franz Goldners Geschichte der österreichischen Emigration in den Jahren 1938 bis 1945, wohl die erste und bisher einzige ihrer Art, das Ergebnis eines jahrzehntelangen, unermüdlichen Aktenstudiums.

Goldner ist Rechtsanwalt und als solcher gewohnt, Tatbestände nach der Aktenlage, und nach ihr allein, zu beurteilen. Was die Akten zu bieten und zu belegen vermögen, ist in seinem Werk enthalten, nicht mehr und nicht weniger. Sein Werk bietet also die Grundlage, die unerläßliche, von der ausgehend spätere und weitere Fragen zu stellen wären. Die Frage etwa nach entscheidenden, niemals aber aufgezeichneten Gesprächen auf höchster Ebene, die nur von den Ohrenzeugen berichtet und rekonstruiert werden könnten, wobei diese Aussagen mit der von Goldner peinlich genau wiedergegebenen Aktenlage zu vergleichen wären.

Um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen: was den Akten über die gegenwärtige Politik des Weißen Hauses zu entnehmen ist, wird kein künftiger Historiker in den Wind schlagen dürfen; über die entscheidenden Gespräche aber zwischen Nixon und Kissinger, zwischen Kissinger und den Herrschern des Ostens gibt es keine Aufzeichnungen. Historiker werden 1 dem Inhalt dieser Gespräche dennoch nachgehen müssen, wollen sie die Zusammenhänge und das Ganze verstehen. Man wird somit auch, ausgehend von Goldners einzigartiger Dokumentation, weitere Fragen stellen müssen, will man verstehen, was in den Brennpunkten der Ereignisse, in Washington vor allem, etwa zwischen 1939 und 1943 wirklich vorging. In diesen Jahren nämlich spielte Otto Habsburg bei Präsident Roosevelt, dessen sentimentale Bindung an Jugenderlebnisse im alten alten Österreich-Ungarn er bald entdeckt hatte und für Österreich auszuwerten wußte, die Rolle eines Mitteleuropa-Kissinger. Eine Rolle, die keineswegs den Aufzeichnungen sabotierender Staatssekretäre und dem Wutgeheul fast sämtlicher Presseagenturen der Welt zu entnehmen, wohl aber mit verbürgten Aussprüchen und Handlungen des Präsidenten selbst zu belegen ist.

Ottos nützliche Rolle bei Roosevelt endete tragisch, als der Präsident glaubte, Mitteleuropa den Russen opfern zu müssen und sie war noch vor diesem Zeitpunkt zweischneidig

— ebenso glanzvoll infolge gegenseitiger Faszination, wie gefährlich. Nicht in den Akten steht, aber den Uberlebenden bekannt ist, daß der Gedanke, ein österreichisches Bataillon aufzustellen, von Roosevelt ausging und daß der innerlich widerstrebende Otto hier zu seinem Unheil ebenso glaubte, sich dem erfahrenen Staatsmann fügen zu müssen, den er fälschlich für politisch instinktsicher hielt, wie er später, wieder zu seinem Unheil, dem Bundeskanzler Raab folgte, der ihm in totaler Unkenntnis gewisser österreichischer Charakterzüge riet, nicht sogleich die Heimkehr, sondern „einleitend“ die (mehr oder weniger symbolische) Rückstellung irgendwelcher Vermögenswerte zu betreiben. Roosevelt besaß im Großen ebensowenig Instinkt wie Raab im Kleinen, was übrigens der Bedeutung beider keinen Abbruch tut, denn — so paradox dies klingen mag

— gerade ihre naive Menschenunkenntnis ist es, die eminent gescheiten Staatsmännern Selbstsicherheit und damit Durchschlagskraft verleiht.

Die Geschichte des österreichischen Bataillons, seine Anfänge als „ungewolltes Kind“ der Habsburger und ihres Kreises, sein Dahinsiechen als öffentlicher Prügelknabe und sein trauriges Ende, läßt sich in allen Phasen bei Goldner nachlesen. Nachzulesen ist auch die in Kreisen der unpolitischen Emigration damals wie heute vertretene Meinung, Otto hätte dem Bataillon in der (amerikanischen!) Uniform eines gemeinen Soldaten beitreten, ja er hätte sich schon vorher, beim Kriegsausbruch, in Frankreich mit anderen österreichischen Politikern internieren lassen und somit sich selbst in diesem und in jenem Fall freiwillig lahmlegen sollen — aller Voraussicht nach total und für alle Zukunft. Das zweite Österreich, jenes, das in den Kerkerzellen und Konzentrationslagern lebte, würde auf einen solchen Gedanken, der alle antihabs-burgischen und antiösterreichichsen Wunschträume Hitlers mit einem Schlag verwirklicht hätte, auf die Vorstellung von sich freiwillig ausschaltenden Habsburg, Deutsch, Fuchs, oder Rott, nur mit einem wilden Protestschrei geantwortet haben

— mit einem verzweifelten und vergeblichen allerdings.

Hier und an manchen anderen aufschlußreichen Stellen der Dokumentation Goldners wird deutlich, daß die drei Österreich, die da an dem Kriegsfronten, in den Kerkern und in der Fremde entstanden, durchaus nicht immer identisch waren. Jede Emigration bleibt auf den Augenblick fixiert, da sie freiwillig oder unfreiwillig die Heimat verließ; und dieser Augenblicke gab es zudem bei der österreichischen Emigration gleich mehrere: die Auswanderung war in zeitlich getrennten Schüben erfolgt, von denen jeder eine andere Zielvorstellung im Herzen bewahrte: monarchische, republikanische, ständestaatliche; und bei den Herren Friedrich Adler, Otto Bauer und Oskar Pollack waren es zu einer Zeit gar noch großdeutsche, als ihre Genossen in der Heimat längst wußten, daß der Anschluß tot war, und sie sich längst, wie ein Seitz, ein Slavik, mit allen harten Konsequenzen in den Widerstand eingereiht hatten.

So mußten — man erfährt es bei Goldner mit aller Bitterkeit und aller Resignation — die Versuche fehlschlagen, Österreich, in Paralelle zum Frankreich de Gaulies, vom freien Westen her neu zu schaffen. Zwischen Monarchisten, Ständestaatsfunktionäre, Republikaner und großdeutsche Reaktion schoben sich zu allem Überdruß noch Störelemente wie ein Ferdinand Czernin ein, der, als wäre die Welt unterdessen nicht zweimal untergegangen, den abgelegenen, längst verstun-kenen Haß des Außenministers Ottokar Czernin auf seinen von ihm im Stich gelassenen kaiserlichen Herrn mit absurder Konsequenz auf die nächste Generation übertrug, ohne damit mehr zu erreichen als die Vollendung der Konfusion. (Auch ihm gegenüber bleibt Goldner als Anwalt bester altösterreichischer Schule leidenschaftslos gelassen.)

Nicht was die Emigranten, nicht was die Frontsoldaten und nicht was die Häftlinge erträumt hatten, wurde 1945 Wirklichkeit. Die Siegermächte restaurierten, als sei die Zeit stehen geblieben, einen Staat, wie er ihren eigenen Vorstellungen (und ihrem speziellen Mangel an Phantasie) entsprach: die Republik des Jahres 1929, an die eigentlich niemand mehr gedacht hatte. Den Toten hätte sie nicht genügt, aber sie genügte den Lebenden. War es doch immerhin ein Österreich, und unendlich besser als keines, war es doch eine der vielen Möglichkeiten, Österreich zu verwirklichen. Nicht die beste, nicht die schlechteste — 1 d ganz gewiß nicht die letzte.

DIE ÖSTERREICHISCHE EMIGRATION 1938 BIS 1945. Als Band VI der Sammlung „Das einsame Gewissen“ 1972 erscheinen im Herold-Verlag, Wien-München. Von Franz Goldner. 350 Seiten, S 198.—.

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