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Das Reizwort Selbsthilfe

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Die Finanzierung unseres sozialen Systems wird immer schwieriger: Die leeren Kassen der Pensionsversicherung (FURCHE 46/1983) sind da nur ein Teilaspekt. Zeigen Formen der Selbsthilfe einen Ausweg?

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Die Finanzierung unseres sozialen Systems wird immer schwieriger: Die leeren Kassen der Pensionsversicherung (FURCHE 46/1983) sind da nur ein Teilaspekt. Zeigen Formen der Selbsthilfe einen Ausweg?

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Der Begriff der „Sozialen Sicherheit“ wird oft mit der Existenz eines ausgeklügelten Sozialversicherungssystems gleichgesetzt. Dieses Sozialversicherungssystem soll die finanziellen Folgen großer sozialer Risken wie z. B. Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, mildern.

In diesem Sinne wird Sozialpolitik als eine reine „Einkommensstrategie“ verstanden, also als die Summe aller politischen Maßnahmen, die dazu dienen, die negativen finanziellen Folgen dieser sozialen Risken abzudecken.

Die vielzitierte „Krise des Wohlfahrtsstaates“ ist nicht nur eine Finanzierungskrise, sondern noch vielmehr eine Systemkrise. Wichtige Beispiele, die diese Sy-

stemkrise demonstrieren, sind die Vorwürfe der Bürokratisierung, Zentralisierung und Entmenschlichung des Sozialstaates, sowie das Auftauchen von neuen Formen der Armut.

Im Hinblick auf die angedeuteten Probleme ergibt sich die Notwendigkeit, die „Einkommensstrategie“ in wachsendem Ausmaß durch eine „Dienstleistungsstrategie“ zu ergänzen.

Unter der Dienstleistungsstrategie werden all jene sozialpolitischen Maßnahmen verstanden, die weniger der materiellen als viel mehr der psychischen, physischen und sozialen Existenzsicherung der Menschen dienen sollen. Beispiele für diese Dienstleistungsstrategie wären vor allem die Befriedigung von Pflege-, Bil- dungs-, Beratungs- und Behand-lungsbedürfnissen.

Wird die Dienstleistungsstrategie als ein erklärter Bestandteil sozialpolitischer Bemühungen akzeptiert, dann verändert sich das Postulat der „Sozialen Sicherheit“ qualitativ. Eine solche qualitative Veränderung kann ein Mosaikstein in der Bekämpfung der Systemkrise des Wohlfahrtsstaates sein. In Grenzen ist sie sogar imstande, einen Beitrag zur finanziellen Entlastung zu leisten.

Die Anerkennung bzw. Aufwertung der Dienstleistungsstrategie erfordert jedoch auch ein Umdenken. Eine solche Aufwertung muß nicht automatisch den Einfluß des Staates oder anderer öffentlicher Leistungsträger verstärken. Dafür gibt es zumindest zwei Begründungen:

Auf der gesellschaftspolitischen Ebene sind wir uns längst dessen bewußt, daß jede Verbesserung der sozialen Sicherheit nur um den Preis eines Autonomieverlustes erkauft werden kann.

• Aber auch rein ökonomische Gründe sprechen dagegen, die öffentliche Hand in zunehmendem Maße mit der Bereitstellung sozialer Dienste zu betrauen. An erster Stelle sind hier sicher die engen Spielräume der öffentlichen Budgets zu nennen.

Dazu kommt die Unfähigkeit großer bürokratischer Organisationen, soziale Dienstleistungen in ausreichender Qualität zu er bringen. Denn die mit dem bürokratischen Organisationsprinzip untrennbar verbundene Standardisierung von Leistungen und Entscheidungsabläufen steht im Gegensatz žum Anspruch der In- dividualisierbarkeit sozialer Dienste und erschwert auch die Mitwirkung der Klienten bei der Leistungserstellung.

Die Alternative zur öffentlichen Bereitstellung sozialer Dienste ist in der Regel nicht das Angebot durch private, gewinnorientierte Unternehmen. Vielmehr sprechen ökonomische und gesellschaftspolitische Überlegungen dafür, organisatorische Formen zu wählen, die eher dem Prinzip der „kleinen Netze“ entsprechen. Damit sind Leistungssysteme angesprochen, die eher auf individuellen und auf Gruppenkontakten aufbauen (z. B. Familie, Nachbarschaft). Das Prinzip der „kleinen Netze“ ist unter anderem durch die verschiedenen Formen von Selbsthilfe und Freiwilligenarbeit verwirklicht.

Ein erster Vorteil der Selbsthilfe betrifft die höhere Qualität der durch Selbsthilfe erstellten Leistungen.

Der zweite Vorteil ist die Produktion zu geringeren Kosten: zu geringeren Kosten vor allem deshalb, weil im Bereich der Selbsthilfe sehr viel unentgeltliche Arbeit geleistet wird, die man zwar in einem weiteren volkswirtschaftlichen Sinn auch bewerten kann und muß, die aber in einem Vergleich alternativer Leistungsträger billiger ist, als wenn für die gleiche Arbeitszeit ein marktmäßiger Lohn bezahlt werden müßte.

Ein dritter Vorteil muß auch noch genannt werden, der Vorteil für diejenigen, die selbst in Selbsthilfe engagiert sind. In einer Zeit, wo so viel von neuen Formen der Selbstverwirklichung, von einem sinnvollen Leben, von Autonomie, vom Streben nach Partizipation im öffentlichen Leben gesprochen wird, kann ein Engagement für Selbsthilfe auch einen positiven Beitrag zur Befriedigung dieser Bedürfnisse für denjenigen leisten, der sich selbst engagiert und der nicht Klient bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen ist.

Andererseits soll Selbsthilfe nicht idealisiert werden, weil damit auch eine Reihe von Nachteilen verbunden ist.

Ein erster Nachteil besteht in den hohen Transaktionskosten, die eine Produktion in Selbsthilfe mit sich bringt. Wenn der Bereich der persönlichen Überschaubarkeit verlassen wird, kann es unter Umständen sehr aufwendig sein, die notwendigen Informationen zu erhalten, wer in welcher Form in den Genuß sozialer Dienstlei stungen kommen soll, es kann Koordinationsprobleme und Doppelgeleisigkeiten geben.

Ein anderer möglicher Problembereich bezieht sich auf die Verläßlichkeit von Freiwilligenleistungen, wofür oft keine rechtliche und auch keine faktische Gewähr besteht.

Ein dritter möglicher Nachteil ist mit der Kontrollproblematik verbunden. Manche private Gruppierungen stehen in einem sehr ausgeprägten ideologischen Umfeld, was dazu führt, daß potentielle Klienten (zu Recht oder zu Unrecht) befürchten, einem bestimmten wertmäßigen Druck ausgeliefert zu sein, wenn sie Leistungen in Anspruch nehmen wollen.

Neben dieser Gefahr besteht noch ein zweites Kontrollpro- blem, nämlich das der Kontrolle durch die Öffentlichkeit, wenn Selbsthilfe unter finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand erfolgt. Wenn eine Aktivität durch eine Subvention unterstützt wird, taucht die Frage auf, inwieweit die öffentliche Hand über die Vereinstätigkeit Kontrolle ausüben kann und soll.

Eine Strategie der Selbsthilfe allein kann sicher nicht von heute auf morgen das Problem der fi nanziellen Lage des Sozialstaates lösen.

Aber wir sind durch ein langfristiges ständiges Abschieben jeglicher Verantwortung auf den Staat in die heute so akute finanzielle Krisensituation hineingekommen, daß man langfristig auch wieder versuchen muß, einen solchen Strukturwandel zurück durchzuführen. Das wird uns aber nicht davor bewahren, kurzfristig einschneidende Maßnahmen zur Sanierung der finanziellen Problematik zu treffen.

Der Autor ist Assistent an der Wirtschafts- Universität Wien. Der Beitrag zitiert auszugsweise einen Vortrag vor der Katholisch- Sozialen Tagung 1983 in Wien.

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