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Ein nationaler Dammbrudi

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Wer aus Berichten über die Erfolge der jugoslawischen Außenpolitik den Eindruck erhält, daß dieses Land — noch vor einigen Jahrzehnten nur im Verhältnis zu Ereignissen auf der Balkanhalbinsel genannt — nunmehr die Rolle eines Stabilitätsfaktors in der Weltpolitik spielt, muß bei Nachrichten, die neuerdings aus dem Inneren Jugoslawiens eintreffen, in einen nicht geringen Zwiespalt geraten.

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Wer aus Berichten über die Erfolge der jugoslawischen Außenpolitik den Eindruck erhält, daß dieses Land — noch vor einigen Jahrzehnten nur im Verhältnis zu Ereignissen auf der Balkanhalbinsel genannt — nunmehr die Rolle eines Stabilitätsfaktors in der Weltpolitik spielt, muß bei Nachrichten, die neuerdings aus dem Inneren Jugoslawiens eintreffen, in einen nicht geringen Zwiespalt geraten.

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Man hat in der Beurteilung der jugoslawischen Verhältnisse immer schon aus einer gewissen Bequemlichkeit den Fehler begangen, die Innenpolitik zu vernachlässigen. Irgendwo ist dies auch verständlich: Es handelt sich beim Bundesstaat Jugoslawien um eine künstliche Zusammenfassung verschiedener Völker und Nationalitätsgruppen, die sich stark voneinander unterscheiden und zum Teil auch auseinanderstreben, ihre besonderen Eigenschaften und Rechte betonen und vor allem, besonders nach der Beseitigung der zentralistischen Regierungsmethoden, ihre Freiheit und Unabhängigkeit anstreben. Dieser Vorgang wird noch immer von Tito und seinem engen Führungskreis im Zaume gehalten und durch neuartige Selbstverwaltungsmethoden kontrolliert, aber es scheint sich hierbei um hoffnungslose Bemühungen zu handeln, denn früher oder später wird der Drang der in Bewegung geratenen Nationen in Jugoslawien jeden Damm brechen.

Allen voran marschieren in dieser Richtung die Kroaten. Ihre Unzufriedenheit hat gute Gründe, sie ist nicht nur ein Anliegen der rebellierenden akademischen Jugend, sondern auch der Wirtschaftstheoretiker, der Sprachwissenschaftler, der Staatsrechtler und nicht zuletzt auch der kommunistischen Regierung der „Sozialistischen Republik Kroatien“, die mit den neuen Verfassungszusätzen eine größere Machtvollkommenheit und eigene Zuständigkeiten erhält. Nach zahlreichen Diskussionen, Vorschlägen und Aufrufen der kroatischen Kulturinstitutionen, Kündigung von Sprachvereinbarungen mit serbischen Linguisten, Protesten gegen die Devisenpolitik gipfelten die kroatischen Forderungen in Postulaten, die das alleinige Recht von souveränen Staaten bilden, wie zum Beispiel: Kroatien soll in der neuen Verfassung eindeutig als „nationaler Staat des kroatischen Volkes“ definiert werden, weil „die Souveränität unteilbar“ sei, die kroatische und nicht mehr eine „serbokroatische" Sprache soll offizielle Sprache der Republik werden, Wehrpflichtige sollen ihren Wehrdienst nur noch auf dem Gebiet Kroatiens ableisten, weil es natürlich sei, „daß jeder seine Heimat am besten verteidigen“ könne. Die Dienst- und Kommandosprache einer in Kroatien stationierten Armee soll Kroatisch und nicht wie bisher Serbisch sein, eine kroatische Nationalbank soll gegründet werden, die dann auch die nach Kroatien mehr als sonstwo nach Jugoslawien einströmenden Devisen bewirtschaften würde. Extreme Kreise, die aber nicht nur unter den Studenten zu suchen sind, fordern dazu noch die Schaffung einer eigenen kroatischen Währung, die Gründung einer eigenen Luftfahrtgesellschaft und die Ausgabe eigener Briefmarken. Am Ende steht die vom Wirtschaftswissenschaftler Dr. Hrvoje Sošič erhobene und vom Studentenbund begeistert aufgenommene Forderung der Aufnahme Kroatiens als selbständiger Staat in die Vereinten Nationen!

Die kroatischen Jungrebellen stammen aus einer Generation, die unter dem Kommunismus aufgewachsen ist; sie hatte keine unmittelbare Beziehung zur kroatischen Vergangenheit und ihrer Nationalgeschichte, die sie jetzt wieder neu entdecken muß. Und trotzdem: Das Wunder geschah nach 25 Jahren kommunistischer Machtausübung. Mit dem charakteristischen Eigensinn dieses Volkes meldet sich wieder ein neuer, sozusagen Supernationalismus als echte Volksbewegung.

Die kroatische akademische Jugend trat am 23. November 1971 zur Unterstützung ihrer Forderungen in bemerkenswerter Disziplin und Einmütigkeit in den Vorlesungsstreik an allen 30 Fakultäten und Hochschulen in Agram, aber auch in Fiume, Zara, Esseg — überall wo es Hochschulen gibt. Sie griff aus dem Katalog ihrer Forderungen geschickt eine Wirtschaftsfrage, nämlich die Devisenpolitik heraus, die sie als verfassungswidrige „Plünderung“ bezeichnete. Tatsächlich erhält Kroatien die durch seinen Fremdenverkehr und den Schiffbau — den zwei ertragsreichsten Außenhandelszweigen — verdiente Devisen nur zu einem Bruchteil, der weitaus größere Rest wird von Belgrader Banken zu anderen Zwecken verwendet und in andere Kanäle gelenkt, so daß in der kroatischen Industrie nicht einmal die notwendigsten Investitionen vorgenommen werden können.

Die Forderungen der kroatischen Intellektuellen an Belgrad, deren sich auch ein Teil der Arbeitskollektive angeschlossen hatte, werden noch festgesetzt werden, auch wenn dieser allgemeine Studentenstreik sein Ende nehmen wird. Doch was wird geschehen, wenn die auf mehr als eine halbe Million geschätzten kroatischen Gastarbeiter aus dem freien Westen wieder nach Hause kommen? Wie werden diese aktiven Kader in Zukunft auf die „demokratischen Freiheiten“ in ihrem Lande reagieren? Diese Gesamtlage gab dem Studentenprorektor der Agramer Universität den Mut, auf die Bemerkung eines Studenten, wer eigentlich bei diesen Forderungen hinter der Studentenschaft stehe, die zwar emphatische doch bezeich-« nende Antwort zu geben: „Eigentlich niemand, lieber Kollege, außer vielleicht das ganze kroatische Volk!“

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