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Eine andere Bibel?

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Nicht erst seit der von Alfons Pfabigan veröffentlichten Schriftensammlung einer „Anderen Bibel mit Altem und Neuem Testament” ist das Interesse an jenen Texten gestiegen, die im geistigen Umfeld der Bibel ähnliche und vergleichbare Themen behandeln, jedoch nicht zu den offiziellen religiösen Schriften des Judentums beziehungsweise der christlichen Kirchen gehören.

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Nicht erst seit der von Alfons Pfabigan veröffentlichten Schriftensammlung einer „Anderen Bibel mit Altem und Neuem Testament” ist das Interesse an jenen Texten gestiegen, die im geistigen Umfeld der Bibel ähnliche und vergleichbare Themen behandeln, jedoch nicht zu den offiziellen religiösen Schriften des Judentums beziehungsweise der christlichen Kirchen gehören.

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Diese anderen Texte vermitteln den Eindruck einer genaueren, weiterführenden Information, die über die Aussagen der herkömmlichen Bibel hinausreicht. Das Interesse, das diese Schriften heute neu wecken, ist wohl so alt wie diese selbst. Sie entstanden im Umfeld der biblischen Schriften, um Genaueres zu erzählen, weiter auszuholen und die des öfteren nur spärlichen Angaben zu ergänzen. So sind sie in gewissem Sinne ein Spiegel für die Volksfrömmigkeit jener Epochen, die darin in ihrem Hang zum Mirakulösen und Wunderbaren ihren Niederschlag gefunden hat.

Eine solche allgemeine Sicht bedarf natürlich der Präzisierung; aber diese ist nicht mit einem Satz getan. Die Schriftengruppe, die mit einem alten Sammelnamen als „Apokryphen” bezeichnet wird, erstreckt sich ihrer Entstehung nach über meh-rere Jahrhunderte. Je nach dem engeren Beziehungsbereich kann generell zwischen den jüdischen apokryphen Texten, die im sachlichen Kontext der alttestamentlichen Literatur stehen, und jenen im Umfeld des Neuen Testaments unterschieden werden.

Die in der Benennung verwendete Terminologie ist allerdings mißverständlich, da die reformatorischen Kirchen die ursprünglich nicht hebräisch geschriebenen Bücher beziehungsweise Schriftenteile des Alten Testaments als apokryph bezeichneten und aus ihrem offiziellen Schriftenverzeichnis ausschieden. Betroffen davon waren die Makkabäerbü-cher, Tobit, Judit, Baruch, Weisheit, Sirach, sowie die griechischen Zusätze zu Daniel und Ester: Diese Schriften hatte Martin Luther für seine deutsche Bibelausgabe 1534 als Anhang übersetzt und als „Apokryphen” bezeichnet.

In seiner Entscheidung war Luther der jüdischen Kanonabgrenzung gefolgt. Mit der sogenannten Synode von Jabne (eine Stadt an der Mittelmeerküste, die nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christus bis 135 Sitz des Hohenrates war) findet um 95 nach Christus ein jahrhundertelanger Prozeß seinen Abschluß. Wohl angesichts der äußeren politischen Bedrängnissituation und in Abgrenzung zu den entstehenden Christengemeinden, welche die hebräische Bibel als ihre Heilige Schrift reklamieren, wird ein verbindliches Schriftenverzeichnis der Bibel, - aus christlicher Sicht bedeutet dies: der alttestamentlichen Schriften - aufgestellt, das die in hebräischer Sprache entstandenen Texte der Bibel enthält.

Ergebnis einer Entwicklung

Damit wird allerdings lediglich zusammengefaßt und festgehalten, was durch die Jahrhunderte lebendige Glaubensüberzeugung des jüdischen Volkes gewesen war. In zeitlicher Abstufung wie auch in unterschiedlicher qualitativer Intensität hatte sich die Uberzeugung allmählich und zunehmend durchgesetzt, daß die Torah (die fünf Bücher Mose), die Prophetenschriften sowie schließlich die sogenannten „übrigen Schriften” in ihrem Ursprung auf Gottes Wirken zurückzuführen seien. Dies geschah nicht durch eine festgesetzte Entscheidung, sondern war das Ergebnis einer längeren Entwicklung zunehmender Bewußtseinsbildung und wachsender Übereinstimmung.

Ihr Beginn ist spätestens mit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil und mit der in der Folge gegebenen Dominanz der Schriften in der Religionsausübung anzusetzen. Warum dabei gewisse, auch hebräische Schriften ausgeschlossen blieben, entzieht sich im einzelnen der heutigen Kenntnis. Vermutlich waren es die inhaltlichen Nuancen, die doch als allzu wunderlich oder als Übertreibung empfunden wurden und die zum Urteil führten, hier sei letztlich doch nicht Gott mit am Werk; daher seien diese Texte wohl interessant, aber keineswegs religiös verbindlich.

Im Gefolge der neutestamentlichen Zeit können ähnliche Beobachtungen gemacht werden. In offensichtlicher Nachahmung der neutestamentlichen

Schriften entstehen ab dem Beginn des 2. Jahrhunderts zahlreiche ähnliche Texte. Sie berichten teilweise mirakelhafte Einzelheiten vom Wirken Jesu und aus dem Leben Marias und der Apostel. Zum Teil sind sie dabei von den älteren Schriften abhängig und ergänzen diese im Sinne einer ausschmückenden Relektüre. Ihre Zahl übersteigt jene der biblischen Schriften bei weitem. Literarisch bilden sie eine große Vielfalt: Evangelienschriften, Apostelakten, Briefliteratur, Apokalyptische Texte.

Vorwurf der Häresie

Aber dennoch: Die Gemeinden der ersten Jahrhunderte wollten diese Texte den älteren nicht gleichstellen. Auch hier geht es nicht um autoritative Entscheidungen, sondern um einen längeren Prozeß, der sich vermutlich hauptsächlich hinsichtlich der Verwendung der Schriften in der Liturgie entfaltete: Wo neue Schriften auftauchten, mußte entschieden werden, ob sie den älteren, der Gemeinde bereits bekannten und in der Liturgie verwendeten Texten gleichgestellt und sodann im selben Sinn zur Lesung herangezogen werden sollten.

Schon um das Jahr 200 ergibt sich diesbezüglich ein weitreichender Konsens, spätestens anfangs des 4. Jahrhunderts besteht im Blick auf die 27 Schriften des Neuen Testaments eine Übereinstimmung. So kann sich der heilige Athanasius als Bischof von Alexandrien in seinem Osterbrief an die Gemeinde von Rom im Jahre 367 auf die ausdrücklich aufgezählten biblischen Schriften als „Quelle des Heiles” berufen, in denen „allein die Lehre der Frömmigkeit verkündigt” wird. Deshalb soll „niemand ihnen etwas hinzufügen oder etwas von ihnen wegnehmen”. Diese deutliche Abgrenzung zeigt, daß die apokryphen Texte stark in Mißkredit geraten waren. In einer Taufkatechese des heiligen Kyrill von Jerusalem (4. Jahrhundert) werden sie insgesamt als „häretisch” bezeichnet, ihre Lektüre wird daher untersagt. Auch ihre summarische Bezeichnung hat abgrenzenden Beigeschmack: „Apokryph” bedeutet „verborgen”oder „geheim”.

Dies bezieht sich nicht in erster Linie auf einen geheimnisvollen Inhalt der Texte, sondern auch auf ihre verborgene, also unklare Herkunft (so bei Irenaus, Adversus haereses I 20, 1; ähnlich bei Tertullian, De pudicitia 10,12: beides Ende 2. Jahrhundert). Die Bezeichnung ist ursprünglich aus der Praxis religiöser und philosophi-scherGruppen hergeleitet, ihre Schriften (und damit die Grundlage ihres Gedankengutes) verborgen, geheim, eben „apokryph” zu halten und damit allgemeinem Zugang zu entziehen.

Die konsequent negative Einschätzung der Schriften ist heute weitgehend gewichen. Eine Prüfung des Inhalts (siehe Beispiel) erlaubt dem Leser selbst ein kritisches Urteil und vermittelt ihm einen Einblick in die Eigenart der Texte, der eine Einordnung ihrer beschränkten Bedeutung selbst aufdrängt. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der biblischen Literatur kann das Studium der Apokryphen vor allem die Wirkgeschichte biblischer Traditionen aufzeigen und Hinweise darauf geben, welche religiöse Themen zu verschiedener Zeit im Umfeld der Bibel besondere Beachtung fanden.

Eine Auswahl apokrypher Schriften zu einer „anderen Bibel” zusammenfügen zu wollen, erscheint also letztlich als ein sehr subjektives und gewagtes Unterfangen. Dem interessierten Leser können sie jedoch zur Erweiterung jenes Hintergrundes dienen, der ihm die Erschließung der biblischen Botschaft erleichtem kann.

Der Autor ist Ordinarius für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät Luzern.

Textbeispiel

Kindheitserzählung des Thomas, Nr. 2:

„Als dieser Knabe Jesus fünf Jahre alt war, spielte er an einer Furt eines Baches; das vorbeifließende Wasser leitete er in Gruben zusammen und machte es sofort rein; mit dem bloßen Worte gebot er ihm. Er bereitete sich weichen Lehm und bildete daraus zwölf Sperlinge. Es war Sabbat, als er dies tat. Auch viele andere Kinderspielten mit ihm. Als nun ein Jude sah, was Jesus am Sabbat beim Spielen tat, ging er sogleich weg und meldete dessen Vater Joseph: „Siehe, dein Knabe ist am Bach, er hat Lehm genommen, zwölf Vögel gebildet und den Sabbat entweiht.” Als nun Joseph an den Ort gekommen war und (es) gesehen hatte, da herrschte er ihn an: „Weshalb tust du am Sabbat, was man nicht tun darf?” Jesus aber klatschte in die Hände und schrie den Sperlingen zu: „Fort mit euch!” Die Sperlinge öffneten ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon. Als aber die Juden das sahen, staunten sie, gingen weg und erzählten ihren Ältesten, was sie Jesus hatten tun sehen.

(Übersetzung aus: Hennecke/Schnee-melcher Band 1, 353)

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