7216423-1992_52_08.jpg
Digital In Arbeit

Freiheit für die Forschung

19451960198020002020

„Das Human Genome Project, das derzeit läuft, wird eine vollständige .Karte' des genetischen Codes liefern. Sie wird es den Wissenschaftern gestatten, die Evolution menschlicher Wesen in posthumane Lebensformen mit wesentlich veränderten Merkmalen und Verhaltensweisen zu gestalten."

19451960198020002020

„Das Human Genome Project, das derzeit läuft, wird eine vollständige .Karte' des genetischen Codes liefern. Sie wird es den Wissenschaftern gestatten, die Evolution menschlicher Wesen in posthumane Lebensformen mit wesentlich veränderten Merkmalen und Verhaltensweisen zu gestalten."

Werbung
Werbung
Werbung

Eine enorme Erweiterung der Macht des Menschen erwartet die Zeitschrift „The Futurist" also. Welche Motive geben diesem Streben Richtung? „Die Wissenschafter werden getrieben von ihrer Neugier, ihrem Ehrgeiz und ihrem Machtstreben. Sie wollen auch der Menschheit dienen - jedoch in einer Weise, die sie selbst definieren.. . Für viele ist die Freiheit der Forschung heilig..." (Michael Mautner in „The Futurist" Juli/Aug. 92)

Ahnlich die Überlegungen von Christine Boutin, einer Abgeordneten zum französischen Parlament. Im Zuge der Debatte über die bioethischen Gesetze sagte sie vor kurzem: „Stellen wir einfach fest, daß die Freiheit der Forschung im Rechtsstaat praktisch die einzige Freiheit ist, die keine Grenzen kennt..."

Diese Freiheit ist tatsächlich ein Tabu der modernen Gesellschaft. Wer wagte es, sie in Frage zu stellen? Zwar ahnen heute immer mehr Menschen, daß uns die Früchte des Forschens auch bedrohen. Aber nirgendwo werden Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen. Im Gegenteil: Mit Gentechnik und Reproduktionsmedizin macht sich der Mensch an die Substanz des Lebens heran, als wäre dieses Vorgehen selbstverständlich:

„Wer heute intensiv anhand von wissenschaftlichen Zeitschriften, Kongreßberichten und Unternehmensnachrichten studiert, was im gegebenen Moment an neuen Ideen ins Forschungslabor geht, wird finden, daß die entsprechenden Produkte nach zirka 15 Jahren auf dem Markt erscheinen... Es ist ausgeschlossen, daß etwas, was sich kurz vor der Vermarktung befindet (wie z.B. Gentechnologie), noch zur Diskussion gestellt werden kann. Es ist quasi schon da...

Den Prognostiker muß... interessieren, ob die Bevölkerungen, die rriün-digen Bürger, wie man sie nennt, als Wähler, Konsumenten oder öffentliche Meinungsträger den von ihm berechneten Prozeß entscheidend beeinflussen können. Fehlanzeige. Wähler verändern an dem historischen Wirkungsdreieck von Politik, Medien und Wirtschaft zwar in jedem Eckpunkt das eine oder andere, aber nichts von dessen Grundkonstruktion...

Was der Prognostiker zur Überraschung seiner selbst und des Publikums konstatiert, ist eine gewisse Eigendynamik der Weltgeschichte... Niemand hat die Richtung vorgeschrieben, ausgedacht, den Gang dahingehend kommandiert. Was der

Prognostiker beschreibt, ist ein gerichteter Prozeß, den niemand steuert... (Prof. Claus D. Kernig in „IBM-Nachrichten" 42, 1992)

Sollte diese Analyse zutreffen - und einiges spricht dafür -, so müßte sie uns alarmieren. Von der Souveränität des Volkes bleibt da aber schon gar nichts über. Alles Wesentliche wird im stillen Kämmerlein entschieden.

Besonders dramatisch erscheint mir aber die Feststellung, unsere Entwicklung besitze eine Eigendynamik, die praktisch niemand verantworte. Das soll Fortschritt sein? Daß wir einer Entwicklung unterworfen sind, die niemand steuert und die uns dauernd zwingt, unsere Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, ja unseren Lebensentwurf an die Technik anzupassen?

Ist das nicht verrückt? Wo bleibt da die vielgerühmte Mündigkeit des Menschen? Vor allem aber: Die frei dahingaloppierende Forschung produziert laufend wirksamere Instrumente. Sie vergrößert die Möglichkeiten, die Realität zu verändern. Man denke nur an das, was die Medizin heute schon kann und demnächst können wird. In Frankreich laufen beispielsweise Versuche, Personen, die an der Parkinson' sehen Krankheit leiden, Gehirnzellen von Embryos einzupflanzen. Man erwartet sich davon eine therapeutische Wirkung.

Was wird da wohl geschehen, wenn sich herausstellt, daß dieses Tun Erfolg bringt? Wird man der Versuchung widerstehen können, menschliche Gehirnzellen (denn das sind die Zellen von Embryonen jedenfalls) in ausreichender Menge zu züchten?

Aus den USA kommen Berichte, daß die bei künstlichen Befruchtungen anfallenden überzähligen Kinder Frauen eingepflanzt werden, die bereit sind, sie mehrere Monate zu tragen (dann haben sie nämlich viele Zellen), um sie gegen Entgelt wieder „abzuliefern". Schon Ende der achtziger Jahre schätzten einschlägige US-Unternehmen, daß der Markt für Embryonalgewebe milliardenschwer sei.

Dazu Bernard Nathanson, ehemals Vorkämpfer für die Abtreibung, heute erbitterter Abtreibungsgegner: „Es ist nur ein ganz kleiner Schritt von der Verwendung fötaler Gewebe für lebensrettende Maßnahmen hin zu ihrer Verwendung für nicht lebensrettende Zwecke. Es ist doch ganz offenkundig, daß in Zukunft jene, deren Sexualfunktion gestört ist, sich um die Transplantation fötaler Sexualorgane anstellen werden, daß Kahlköpfige an Haatransplantaten interessiert sein werden und Zahnlose an Zahngewebe... Hier zeichnen sich unvorstellbare ökonomische Möglichkeiten ab. Eine Hauptindustrie im 21. Jahrhundert! Wirsind dabei ein.body-shop' ins Leben zu rufen."

Klingt selbst heute noch übertrieben, nicht wahr? Aber man könnte es sich schon vorstellen. Was spricht denn auch grundsätzlich dagegen, so vorzugehen? Wenn man ungeborene Kinder umbringen darf, weil sie das Haushaltsbudget belasten, warum sollte man die dabei anfallenden „Restprodukte" nicht „sinnvoll" nützen - etwa um einem impotenten Mann zu Nachkommen zu verhelfen? Läßt sich da nicht sehr leicht eine wunderschöne, ethisch klingende Argumentation aufbauen?

Mißbräuchen müsse selbstverständlich ein Riegel vorgeschoben werden, wird richtigerweise argumentiert. Ethik-Kommissionen würden befinden, „was gesellschaftlich erwünscht ist oder nicht." So sieht es der Entwurf des Gesundheitsministeriums für ein Gentechhikgesetz vor.

Klingt gut. Aber woher nimmt eine pluralistische Gesellschaft die Maßstäbe für eine solche Entscheidung? Ohne gemeinsame Weltanschauung werden auch Ethiker, Soziologen, Ärzte, Juristen und Ökologen (FURCHE 40/1992) kein gültiges Urteil fällen können. Gesellschaftlich erwünscht - welch vager Begriff! Was war nicht schon alles gesellschaftlich erwünscht? Zwischen 1907 und 1949 war es in den USA offenbar gesellschaftlich erwünscht, Geisteskranke zu sterilisieren. Insgesamt 50.000 erlitten dieses Schicksal. In Schweden waren es 12.000 in den vierziger Jahren...

Der Wissenschaft freie Bahn zu lassen und Ethik-Kommissionen als Sittenwächter nach erfolgter Entwicklung einzusetzen, wird uns nicht vor Unmenschlichkeit bewahren. Geben wir uns keinen Illusionen hin: Was im Labor funktioniert und sich vermarkten läßt, wird auch erzeugt werden.

Das ist die Logik unseres heutigen Systems. Sein oberstes Entscheidungskriterium ist die Nützlichkeit. Wie hatte doch John Maynard Key-nes, der große ökonomische Vordenker, gesagt? „Noch mindestens weitere 100 Jahre müssen wir uns und den anderen sagen, daß ,foul' eigentlich ,fair' ist. Denn ,foul' ist nützlich, ,fair' aber unnütz. Geiz, Wucher und Mißtrauen müssen noch für eine kleine Weile unsere Götter sein. Denn nur sie können uns aus dem Tunnel wirtschaftlicher Notwendigkeit ins Licht führen."

Das ist die Umkehrung aller unserer bisherigen Werte als Handlungsanweisung für unsere Gesellschaft. Was Nutzen stiftet, sei automatisch gut, vorausgesetzt es nützt ausreichend vielen. Mit diesem Erfolgsrezept wird alles möglich - vor allem in einem Zeitalter, in dem die Massensuggestion so perfektioniert worden ist wie heute.

Was wird uns vor der Unmenschlichkeit bewahren? Wo sind die Barrieren, die wirklich nicht überstiegen werden? Weit und breit keine Spur echter Grenzen. Das beweist die Geschichte der letzten Jahre zur Genüge: Eine Gesellschaft, die sich zum Menschenrecht auf Leben bekennt, läßt zu, daß weltweit 30 bis 50 Millionen Kinder im Mutterleib getötet werden und sie denkt ernsthaft über die Einführung der Tötung Sterbenskranker nach. Wo das passiert, ist alles möglich. Das haben Auschwitz und der Gulag gezeigt, das beweisen die organisierten Massenvergewaltigungen in Bosnien (FURCHE 51/1992). Dünn und brüchig ist der Firnis unserer Humanität.

Die dem christlichen Nährboden entwachsenen, pluralistischen Gesellschaften sind geistig orientierungslos. Sie haben sich einem von Forschung gesteuerten Automatismus unterworfen, dessen Ziel die Pflege des Egoismus ist. Auf die Dauer können wir damit nicht überleben. Kulturen, die sich von ihrer Wurzel lösen, gehen zugrunde. Das zeigt die Geschichte. Das christliche Abendland wird da keine Ausnahme bilden.

Das festzustellen, ist nicht Pessimismus. Es ermöglicht vielmehr, nach einem echten Ausweg zu suchen. Er wird nicht in der Perfektionierung von Kontrollen und Gesetzen zu suchen sein, sondern in der Umkehr der Herzen - vor allem jener der Wissenschafter. Es geht um eine tiefreichende geistige Neuausrichtung, eine Wiederbelebung der Wurzel unserer Kultur, die Neu-Evangelisierung, um Advent, Ankunft Gottes in unsere Zeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung