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Imre Nagy, Mensch und Symbol

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Als „Helden" des Ungarn-Aufstandes von 1956 werden Imre Nagy und Gefährten heute, am 31. Jahrestag ihrer Hinrichtung, in Budapest feierlich beigesetzt. Ungarn kehrt damit zum Selbstverständnis eines freien, unabhängigen Staates zurück, das die 56er Generation so tief prägte.

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Als „Helden" des Ungarn-Aufstandes von 1956 werden Imre Nagy und Gefährten heute, am 31. Jahrestag ihrer Hinrichtung, in Budapest feierlich beigesetzt. Ungarn kehrt damit zum Selbstverständnis eines freien, unabhängigen Staates zurück, das die 56er Generation so tief prägte.

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Was für ein Jahrhundert! Ich war zwölf, als die Geheimpolizisten meinen Vater holten; Mutter zitterte am ganzen Leib, kam tagelang nicht zur Ruhe; erst Monate später war mein Vater wieder daheim, er, der ewige Spaßmacher, verbittert und schweigsam. Bestechungsgelder hatten, so sagte man, diesmal geholfen. Zur gleichen Zeit fielen, erfroren, verhungerten die Soldaten an der Ostfront; neben ihnen wurden die Kompanien zum Arbeitsdienst eingezogener Juden über Minenfelder gejagt. Ich war vierzehn, als der Belagerungsring um Budapest geschlossen wurde. Nach einem Bombenangriff lag unser Haus in Trümmern, unter ihnen die Leiche des taubstummen Schneiders, der den Kampflärm nicht hörte. Die Juden hatte man bereits nach Auschwitz verschleppt oder ins neu errichtete Ghetto gepfercht. Diejenigen, die in den

Schutzhäusem des Vatikans, der Schweiz und Schwedens Zuflucht gefunden hatten, wurden von den ungarischen Nazis, die sich Pfeil- kreuzler nannten, bei Morgengrauen abgeholt und in die Donau geschossen. Als ich im Januar 1945 am Vorgarten der Synagoge vorbeiging, sah ich Hunderte von hartgefrorenen Leichen; man hatte sie wie Holzscheite aufeinandergestapelt.

Zwei Jahre später wurden im Hof des Gefängnisses die Pfeilkreuzler- führer öffentlich gehenkt, vom Publikum, das die Fensterplätze besetzt hatte, wurde dem Henker laut Beifall gezollt. Ich war neunzehn, als der ehemalige kommunistische Außenminister Läszlö Rajk und seine Gefährten hingerichtet Wurden, nach einem Prozeß, in dem sich der Hauptangeklagte selbst als titoistischen Agenten bezeichnet hatte. Ich war dem hageren jugendlichen Mann oft genug begegnet und gehörte zu denjenigen, die seinen Aussagen - verblüfft und bestürzt - Glauben schenkten. Das Elend wurde nun spürbarer, und nicht nur moralisch. Es kam abermals zu Deportationen. Alle, die adeliger Herkunft waren, zur Klasse der ehemaligen „Ausbeuter" gehörten odereinen übelwollendenNachbanl hatten, wurden in baufällige Häuser entlegener Dörfer gebracht. Manche dieser Hütten hatten jenen Ungamdeutschen gehört, die man bereits 1946 vertrieben hatte. Erst jetzt, 1952, begann die ohnmächtige und danach tatkräftige Wut zu reifen. Sehr spät. Ich war bereits zweiundzwanzig.

In den drei Jahren danach konnte manches unternommen werden, wenig genug. Wir gründeten eine Gesellschaft für freie Diskussionen; sie wurde Petöfi-Kreis genannt. Wir brachten unschuldig verfolgte Schriftsteller in die Öffentlichkeit zurück. Wir verfaßten und publizierten Forderungen nach mehr Freiheit. Wir versuchten, die Lage an den Universitäten im Sinne der Gerechtigkeit umzugestalten. Wir kämpften mit den bescheidenen Mitteln der Schrift gegen den Stalinismus. Unser Streben kam im September 1956 zum ersten Höhepunkt. Da winden Läszlö Rajk und seine Gefährten ehrenhaft begraben. Einige Wochen später kam es - unerwartet, aber leidenschaftlich begrüßt - zum Ausbruch der Revolution 1956. Wieder lagen Tote auf den Straßen; heute wissen wir, daß für den Aufstand mehr als 2.700 Menschen gefallen waren. Am 4. November besetzten sowjetische Truppen die Hauptstadt; die Zahl der Ungarn, die danach hingerichtet wurden, ist mir nicht bekannt. Am 16. Juni 1958 wurden Ministerpräsident Imre Nagy und seine Gefährten Miklös Gimęs und Pal Maleter in einem Budapester Gefängnis gehenkt. Nun, am 16. Juni 1989, werden die sterblichen Überreste der schuldlos ermordeten Männer in Ungarn feierlich zu ewiger Ruhe gebettet.

Auch Imre Nagy war ich öfters begegnet. Als Sechzehnjährigersah ich ihn in einer Ortschaft in der Tiefebene. Er war Landwirtschaftsminister und offenbar mit den Aufgaben der Agrarreform beschäftigt. Damals wurde der Großgrundbesitz auf geteilt; Hunderttausende von Bauern erhielten eigene Güter. Nur zwei Jahre später hätte Imre Nagy die verteilten Ländereien von den Bauern im Zuge der gewaltsamen Kollektivierung wiederwegnehmen sollen. Er lehnte ab. Sein Plan war, die Landwirte binnen dreißig oder vierzig Jahren in einer Vielfalt von organisch gewachsenen Genossenschaften zu sammeln. Erst 1953 sah ich Imre Nagy wieder. Nach Stalins Tod wurde er - mit Unterstützung seines Freundes Malenkow, so hieß es - Ministerpräsident. Behutsam, wie es seine Art war, begann er seinen Kampf gegen die schlimmsten Ungerechtigkeiten des Stalinismus.

Er besaß zu dieser Zeit ein kleines Notizheft In diesem hielt er Einzelschicksale fest: zumeist Namen von Menschen, die nicht zu den Berühmtheiten zählten und nun von ihm rehabilitiert und in die Freiheit entlassen werden konnten - die Namen von Unbekannten. Zum Beispiel: Während des Ra jk-Prozes- ses wurde auch der Verteidigungsminister Sändor Nögrädi, ein treuer Stalinist, für ein paar Tage verhaftet Doch mit ihm wurden auch seine Sekretärin, deren Mann, Schwester und Schwager eingekerkert Nögradi war zu feige, um für sie zu intervenieren. Sie befanden sich immer noch im Gefängnis. Opfer dieser Art gab es ohne Zahl. Imre Nagy notierte. Auf diesem Weg erlangten viele Vergessene, sofern sie überlebt hatten, die Freiheit

Noch 1955 gelang es den Stalinisten, Imre Nagy zu stürzen. Irgendwann in dieser Zeit standen wir in der Straßenbahn nebeneinander, wechselten ein paar Worte. Der kleine, etwas korpulente Mann im grauen Lodenmantel mit dem ländlich anmutenden Hut wirkte nachdenklich und heiter. Er schielte ein wenig; der schiefe Blick hinter den Gläsern des Zwickers hatte einen schelmischen Glanz. Ich nannte ihn, wie alle, „Imre bäcsi“, Onkel Imre. Der Inhalt des Gesprächs ist mir entfallen, er war gewiß nicht wichtig.

Doch in den Diskussionen des Petöfi-Kreises, die damals bereits von Tausenden besucht wurde, kamen seine Ideen vielfältig zum Ausdruck. Die Grundprinzipien seiner Regierungserklärung wurden immer wieder aufgegriffen. Aus heutiger Sicht mögen unsere damaligen Fragen zahm erscheinen: Warum ist die ungarische Landwirtschaft zugrundegegangen? Warum wird ungarisches Radium in die Sowjetunion unter dem Weltmarktpreis verkauft? Sollen die Zeitungen der Partei dienen oder die Wahrheit berichten? Der große Saal des Klubs der Volksarmee war zu klein; das Publikum verfolgte die Debatten mit Hilfe von Lautsprechern in anderen Sälen. Noch war der Name Imre Nagy nicht gefallen.

Die stalinistische Parteiführung holte ihn dann am Nachmittag des 23. Oktober 1956, berief sich auf seine Parteitreue und machte ihn abermals zum Ministerpräsidenten. So stand er auf dem Balkon des Parlaments und hielt eine äußerst maßvolle, der Parteidisziplin entsprechende Rede. Wir waren dennoch nicht enttäuscht. Wir spürten oder hofften, daß wir ihm vertrauen konnten. An diesem Punkt kommt freilich Irrationelles ins Spiel. Das ungarische Idiom, das Imre Nagy sprach, war ländlich gefärbt, ausdrucksvoll und besonnen, fast phlegmatisch. Das bildete einen wohltuenden Kontrast zur Redeweise des Stalinistenführers Mätyäs Räkosi, der sich stets einer von niemandem gesprochenen bäuerlichen Phantasiemundart bediente.

Während der dreizehn Tage der Revolution war Imre Nagys höchstes Ziel - so schien es uns -, die Lage auf einem höheren Niveau zu stabilisieren, das heißt: die Unabhängigkeit des Landes im Zeichen eines gemäßigten Reformkommunismus abzusichem. Nur die nächsten Mitarbeiter des Ministerpräsidenten und vielleicht einige bisher unveröffentlichte Dokumente werden bezeugen können, ob er die Einführung des Mehrparteiensystems und Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt unter dem Druck der Umstände aus taktischen Erwägungen oder aus innerster Überzeugung vollzogen hat. Eindeutig war seine Haltung innerhalb der kommunistischen Bewegung: durch die Auflösung der Partei der Ungarischen Werktätigen (wie die KP bis dahin hieß) und der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (wie die in Ungarn bis heute herrschende KP genannt wird) wurden die Stalinisten ausgebootet und ihre früheren Opfer oder Widersacher wenigstens theoretisch an die Macht gebracht. Unter den sieben Gründungsmitgliedern der neuen Partei befanden sich allerdings keine engen persönlichen oder politischen Anhänger von Imre Nagy, dafür aber auch für die Sowjetführung annehmbare Altkommunisten wie Zoltän Szänto, Georg Lukäcs und Jänos Kadär. Diese schienen Imre Nagy allerdings, auch nach der Gründung seiner, die Konstellation von 1945 erneuernde Vierparteienregierung, zu folgen. Kadär hielt noch am 1. November eine Rede, in der er das Mehrparteiensystem begrüßte und der Hoffnung Ausdruck gab, die neue kommunistische Partei würde ihre Arbeit mit einem Stimmenanteil von etwa fünfzehn Prozent, dafür aber sauber, von den blutigen Ereignissen der Vergangenheit unbelastet, beginnen können. Ich habe die Rede im Hof des Rundfunkgebäudes selbst gehört. Vier Tage später wußten wir, daß er die Revolution verraten hatte.

Drei schwere Nächte dieses Mannes, der das Handwerk eines Schreibmaschinenmechanikers erlernt hatte, sind bis heute im Dunkeln geblieben: in der ersten mußte er die Hinrichtung seines Freundes Laszlö Rajk, in der zweiten seinen Verrat an Imre Nagy, in der dritten die Hinrichtung des Ministerpräsidenten seelisch verkraften. Gewiß, auch er hatte die Jahre nach dem Rajk-Prozeß schuldlos im Gefängnis verbracht. Hatte man, wenn nicht sein Genick, so sein Rückgrat gebrochen? Seiner psychischen Struktur nach ist Jänos Kadär kein Zyniker, wenn ihn etwas durch die dunklen Stunden seines Lebens helfen konnte, so war es jene Fiktion, deren Wirksamkeit gerade in diesen Tagen durch das Blutbad in Peking erwiesen worden ist: das besondere „Ethos“ des Berufsrevolutionärs.

Der Typus wurde von Lenin geprägt und von Stalin verklärt, doch tritt er uns bereits aus den Theorien von Karl Marx als Exekutor eines für unumkehrbar gehaltenen historischen Prozesses entgegen. Als wissender Vollstrecker der „historischen Notwendigkeit“ schont er weder sich, noch die anderen. In seiner asketischen Erscheinungsformtritt seine trocken-theoretische Bereitschaft zum Morden offen zutage; die bacchantische Variante leugnet nicht die Gier nach der Macht und verfährt nicht weniger grausam, aber lustvoll. Die Lebensform des Berufsrevolutionärs ist die Unterordnung; er hält sich für den Mithelfer eines säkularisierten Jüngsten Gerichts. Als Wissender gehört er einer Elite an, als Tatenmensch fühlt er sich als Teil einer weltumfassenden Verschwörung, sein Recht auf Morden gründet er auf die „Sache des Proletariats“ und auf die Erfordernisse einer hellen kommunistischen Zukunft. Persönliche Regungen hat er dementsprechend zu unterdrücken. Sollte es notwendig sein, Freunde zu liquidieren, so wird eres tun im Bewußtsein, sich in einer schwierigen Lage für „die Sache“ entschieden zu haben.

Diesem Typus versuchte sich Jänos Kadär in jenen drei schwierigen Nächten seines Lebens anzugleichen. Zu jugoslawischen Journalisten hat er sich am 1. November 1956 in diesem Sinne geäußert;: vor die Wahl gestellt, eine weitere Demokratisierung zuzulassen oder „im Interesse der proletarischen Sache“ als Handlanger der sowjetischen Armee aufzutreten, müßte er sich für die zweite Möglichkeit entscheiden,auch wenn er in die Geschichte als „Henker der Nation“ eingehen würde. Vielleicht sind seine späteren Gesten der Liberalisierung auch im Lichte dieser Äußerung zu beurteilen.

Das ist der Punkt, an dem der Kontrast die Haltung von Imre Nagy hell erleuchtet. Auch er war als junger Mann überzeugter Kommunist geworden; er hatte die Zwischenkriegszeit in der Sowjetunion verbracht; auch er versuchte nach seiner Rückkehr nach Ungarn der

Partei zu dienen. Doch ist in ihm, im Gegensatz zum Typus des Berufsrevolutionärs, das Gefühl schlichter Menschlichkeit und damit auch der Sinn für die Realität erhalten geblieben. Seine Schriften zur Agrarpolitik zeigen ihn als Marxisten, dogmentreu, aber bemüht, die Geschichte als einzigen organischen Wachstumsprozeß zubetrachten, als eine ununterbrochene Reihe von Wochentagen, in denen sich die Menschen - jeder nach seiner nationalen oder kulturellenTraditionund persönlichen Beschaffenheit - bemühen, ein wenig glücklicher zu werden oder einfach zu überleben. Ungern dachte er an die Machbarkeit der Historie durch Gewalt.

Daß Imre Nagy sich nach seiner Verhaftung weigerte, der Formnach abzudanken, auch nur für das Geheimprotokoll Selbstkritik zu üben, seine Haltung während der Revolution 1956 zu bereuen, Kompromisse zu schließen, ist bekannt. Er hatte während der dreizehn Tage seiner zweiten Regierungszeit, vielleicht bereits früher, die Grenze zwischen dem „Ethos“ der Berufsrevolutionäre und jenem anderen wirklichen Ethos überschritten, das das Morden verbietet, die Unterdrückung freien menschlichen Wollens untersagt und die Tatkraft auf das stille und schwierige Werk menschlicher und gesellschaftlicher Entfaltung konzentriert. Da erden Stalinismus kannte, wußte er um die Folgen.

Die allmähliche Metamorphose des Kommunismus läßt Imre Nagy als einen Vorläufer und Vorkämpfer gegenwärtiger Entwicklungen erscheinen. Sein Beispiel ist bedeutender. Es zeigt, daß die Veränderungen jene Grenzen überschreiten müssen, die „Ethos“ vom Ethos trennt, und daß sich die Möglichkeit menschenwürdigen Lebens nur mit dem Verschwinden der Diktatur des Wahnsinns gegeben ist. Die historische Notwendigkeit - die wirkliche und nicht die fiktive - scheint dem Intermezzo des Kommunismus allmählich ein Ende zu bereiten. Imre Nagy ist durch sein Leben und seinen Tod Symbolfigur dieser Epoche eines schwierigen Übergangs.

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