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um Freiheit Neutralität

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Wie ein Pulverfaß explodierte am 23. Oktober 1956 - vor genau 30 Jahren - Ungarn. Man wollte aufräumen mit kommunistischem Hochmut und politischer Dummheit.

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Wie ein Pulverfaß explodierte am 23. Oktober 1956 - vor genau 30 Jahren - Ungarn. Man wollte aufräumen mit kommunistischem Hochmut und politischer Dummheit.

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zurückdrehen. Im Spätherbst 1955 begann sich eine Bewegung von Intellektuellen zur Fortsetzung der Reformen zu bilden. Ihr gehörten vor allem Kommunisten an, die noch an eine Erneuerung des Sozialismus glaubten und nun von Rakosis Staatsterror aufgeschreckt wurden. Sie scharten sich um den Patrioten Imre Nagy, der von Räkosi im Dezember 1955 aus der Partei ausgeschlossen und aus dem öffentlichen Leben verbannt worden war.

Die große Wende bahnte sich in Moskau an, wo im Februar 1956 der 20. Parteikongreß der KPdSU tagte. Chruschtschows Geheimrede — die Abrechnung mit dem Stalinismus — wurde zur Grundlage der nun einsetzenden Entstalini-sierungs-Kampagne in Osteuropa. Für die Gegner von Räkosi kamsie zur richtigen Zeit. Die Bewegung erstarkte.

Dann sprang der Funke auf die Universitäten über. Der „Petöfi-Kreis“, ein vom Kommunistischen Jugendverband ins Leben gerufener Debattierklub, wurde im Frühjahr und Sommer 1956 zu einem Diskussionszentrum der akademischen Jugend, wo immer offener und ohne Scheu vor Repressalien über die tiefe Vertrauenskrise im Lande gesprochen werden konnte.

Rakosis Tage gingen zu Ende. Sogar die Sowjets begriffen, daß sich „der verdiente Kämpfer des Internationalen Kommunismus“ und „Vater des ungarischen Volkes“ nicht würde halten können. Am 18. Juli 1956 mußte der 64jährige KP-Chef zähneknirschend demissionieren. Noch in derselben Nacht flog er an Bord eines sowjetischen Flugzeuges für immer nach Moskau.

Und nun machten die Sowjets einen großen Fehler. Statt die ungarische Führungsspitze vollständig von .Stalinisten“ zu säubern, setzten sie Ernö Gero, einen „Stalinisten der alten Schule“, als neuen KP-Chef ein und beließen den Räkosi-Anhänger Andräs Hegedüs auf seinem Posten als Ministerpräsident.

Hätte man damals Jänos Kädär und Imre Nagy mit der Partei-und der Staatsführung betraut, wäre Ungarn und dem Kreml der Volksaufstand höchstwahrscheinlich erspart geblieben.

Es kam aber anders.

Die Gerö-Hegedüs-Führung war nicht fähig, die Staatskrise zu lösen; ja, sie sah sie gar nicht. Die Spannung unter der Bevölkerung nahm im ganzen Land zu.

Bei der öffentlichen Rehabilitierung beziehungsweise Neubestattung von Rakosis Opfern Läszlö Rajk und Genossen am 6. Oktober auf dem Budapester Friedhof Kerepes bot die dort versammelte Trauergemeinde (200.000 Menschen) mit ihrem stummen Protest ein gespenstisches Schauspiel. Ausländische Beobachter betonten später, schon damals seien Vorboten des kommenden Ausbruchs zu spüren gewesen.

Und er kam auch: am 23. Oktober. Der Bewegung von Intellektuellen und Jungakademikern schloß sich die Arbeiterschaft an. Die Polizei blieb nicht nur untätig, sondern gab den Demonstranten ihre Waffen. Volksarmisten weigerten sich, das Feuer auf die Menge zu eröffnen, und verbrüderten sich mit dem Volk. Das Erscheinen und Eingreifen der sowjetischen Truppen in Budapest brachte die Nation auf die Barrikaden. Was hatten die Fremden hier zu suchen?

Nach Budapest stand dann bald das ganze Land in Aufruhr. Die KP mit ihren 900.000 Mitgliedern löste sich einfach in Luft auf. Außer einzelnen Teilen des Staatssicherheitsdienstes war niemand bereit, sein Leben für das abgewirtschaftete Regime, geschweige denn für die Sowjets einzusetzen. Keine Gesellschaftsschicht widersetzte sich der neuen, revolutionären Lage. Noch nie war die Nation so einig wie in jenen Oktobertagen 1956. Denn während in Budapest und in einigen größeren Provinzstädten bis Ende Oktober gegen die sowjetische Militärintervention gekämpft wurde, versorgten die Bauern die Städter freiwillig und ohne Entgelt mit Lebensmitteln.

Niemand mußte hungern. An die Stelle der zusammengebrochenen staatlichen Verwaltung traten in den Städten und in den Gemeinden spontan demokratisch gebildete Arbeiterräte, Nationalausschüsse und Revolutionskomitees. Die von Räkosi zum Schweigen gebrachten Parteien wurden neu gebildet und stießen auf reges Echo bei der Bevölkerung. Auch die KP reorganisierte sich.

Unterdessen wurden in Budapest die Machtverhältnisse geregelt. Imre Nagy - seit 24. Oktober Ministerpräsident — und Jänos Kädär - ab 25. Oktober neuer Parteichef — taten alles, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Heute weiß man, daß die sowjetische Führung, an einer raschen Beruhigung der Lage höchst interessiert, den beiden Ungarn ab 28. Oktober freie Hand ließ, in der irrigen Annahme, sie würden dem Volk nur zum Schein Zugeständnisse machen.

Nagy und Kädär handelten aber tatsächlich im Interesse des Volkes und nahmen ihr Mandat ernst, indem sie sich dem Willen der Nation beugten. Die Einparteien-Diktatur wurde abgeschafft, der Sieg des Aufstandes verkündet, die Forderung nach Abzug der Sowjetarmee (vorerst aus Budapest) erfüllt und die Blockfreiheit und Neutralität Ungarns feierlich proklamiert.

Am 1. November 1956 schien es in Ungarn so, als ob tatsächlich der Volkswille über die Diktatur gesiegt hätte. Was hinter den Kulissen der Weltpolitik inzwischen lief, blieb lange Zeit Geheimnis für Eingeweihte beziehungsweise für damalige Hauptakteure.

Ziel Moskaus war es, Ungarn für den „Sozialismus“ zu retten. Zu diesem Zweck mußte eine neue Regierung gebildet werden, wofür Kädär ausersehen war. Mit „sanfter Gewalt“ wurde er am Abend des 1. November aus Budapest entführt und'in der Sowjetunion auf seine neue Aufgabe vorbereitet. Wie dies geschah, und weswegen Kädär den Verrat begangen hat, ist heute noch Staatsgeheimnis. Tatsache ist nur, daß Kädär sich am 4. November aus der Provinzstadt Szolnok über Rundfunk meldete.

Sein feierlicher Appell, „Ungarn für den Sozialismus zu retten“, ging im Kriegstaumel unter, und so traten Schukows Panzertruppen zum Angriff an. Zehn Tage brauchten die Invasoren, bis sie mit ihrer Ubermacht Herr der Lage waren.

Weitere sechs Monate brauchte dann Kädär, bis er mit dem politischen Wechselbad „Versprechungen und Gewalt“ den passiven Widerstand der ungarischen Nation brechen konnte. Im Zuge dieser Politik wurden die Errungenschaften des Volksaufstandes Stück um Stück rückgängig gemacht.

Trotz der seit längerer Zeit vorherrschenden allgemeinen Liberalisierung in Ungarn ist diese Epoche volksdemokratischer Geschichte immer noch die .Achillesferse“ der heutigen Budapester Regierung. Offiziell gültig ist daher die Sowjetversion der Geschehnisse: Im Herbst 1956 fand in Ungarn eine vom kapitalistischen Ausland durch imperialistische Kräfte auf langem Weg vorbereitete volksfeindliche Konterrevolution statt, die bedauerlicherweise zeitweilig auch Teile der Bevölkerung gegen ihre eigenen echten Klasseninteressen zu mobilisieren vermochte.

Eine Vergangenheitsbewältigung existiert für 1956 in Ungarn nicht. Das weiß jeder in Ungarn. So lebt die Erinnerung an den Völksaufstand als eine Sternstunde der ungarischen Geschichte im Herzen der Bevölkerung weiter. Ohne das physische und psychische Opfer von 1956 nähme Ungarn heute nicht seinen von den „Bruderländern“ beneideten Platz innerhalb des Sowjetblocks ein; wäre es heute nicht „Schaufenster des Ostens“, nicht „Hongkong des Warschauer Paktes“.

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