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Gemeinsame Seelen
Seit dem Wandel in der Tschechoslowakei und besonders seit der Einmischung vom 21. August wurden natürlich viele Parallelen zwischen der Ungarischen Revolution von 1956 und den tschechoslowakischen Ereignissen von 1968 gezogen. Viele dieser Parallelen waren richtig, viele falsch. Unter den letzteren befand sich die ziemlich weit verbreitete extreme Ansicht, daß sich die Tschechen klüger benommen hätten als die Ungarn; oder, umgekehrt, daß die Ungarn sich tapferer gezeigt hätten als die Tschechen. Beide Ansichten sind fals.ch..„Mi, ,T .
Der Charakter dieser beiden historischen Begebenheiten ist völlig verschieden. Ungarn hatte einen Volksaufstand; in der Tschechoslowakei aber unternahm die Kommunistische Partei einen Reformversuch. In Ungarn wollten die frei gewordenen Kräfte eine richtige Demokratie nach westlichem Vorbild, und es schwebt ihnen das Beispiel Österreichs vor Augen. In der Tschechoslowakei wünschte die Partei die Demokratisierung des Sozialismus, und das Vorbild schien — in groben Zügen — Jugoslawien zu sein.
Ungiarns angebliche Fehler
Nach 1956, betonten viele westliche Journalisten mit Vorliebe, daß die Ungarn zwei Fehler begangen hätten. Der eine sei, daß sie gleich zu den Waffen gegriffen hätten, und der andere, daß Imre Nagy aus dem Warschauer Pakt ausgetreten sei und damit die sowjetische Einmischung des 4. November provoziert habe. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Beweisführung sehr oft nur dazu dienen sollte, nachträglich die russische Haltung zu entschuldigen, widersprachen die Tatsachen dieser Behauptung. In Ungarn gab es am 23. Oktober 1956 nur eine friedliche Demonstration vor der Petöfl-Statue, genauso wie Ende 1967 und Anfangs 1968 viele solche Studentendemonstrationen auf dem Wenzelsplatz in Prag stattgefunden haben. Doch während in Prag die Partei mit Verständnis auf die Studentendemonstrationen reagierte, drohte in Budapest Ernö Gero — eine Art Mischung von Räkosi und Novotny — den jungen Leuten in provozierendem stalinistischem Ton. Die Untersuchung der Vereinten Nationen stellte fest (siehe Herder- Bücherei „Was in Ungarn geschah“), daß die Männer der Geheimpolizei AVO die, wie allgemein bekannt war, unter sowjetischer Führung stand, das Feuer auf die unbewaffnete Menge eröffnete. Laut UNO-Angabe war das der Wendepunkt, an dem sich eine friedliche Demonstration in Aufruhr wandelte.
Die Lage verschlechterte sich noch weiter dadurch, daß am nächsten Morgen sowjetische Panzer in Buda
pest einzogen und — wieder laut Feststellung der UNO-Untersuchung — ohne Warnung das Feuer eröffneten. Man kann nicht oft genug Gott danken, daß das in der Tschechoslowakei nicht geschah, und die Sowjetunion — vielleicht durch Erfahrung in Budapest klug geworden — ihren Truppen von Anfang an den Befehl gab, sich der Bevölkerung und den Demonstranten gegenüber zurückzuhalten.
Warschauer Pakt unerheblich
Die Behauptung, daß am 4. November . idle . Sowjetunion deshalb zum zweitenmal eingegriffen habe, weil Ungarn das Warschauer Bündnis verließ, ist ebenfalls falsch. Der Fall lag genau umgekehrt. Ungarn wollte aus dem Warschauer Bündnis austreten, um die sowjetische Intervention auch vom kommunistischen Standpunkt aus zu „illegalisieren“.
Nachdem die Sowjetunion schon versprochen hatte, die sowjetischen Truppen herauszuziehen, sah sich Ministerpräsident Imre Nagy am 1. November 1956 gezwungen, sich an den sowjetischen Botschafter zu wenden. Der Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen schreibt folgendes darüber:
„Am Morgen des 1. November übernahm Nagy die direkte Verantwortung für die Außenpolitik. Er teilte dem sowjetischen Botschafter mit, daß er authentische Informationen über den Einmarsch neuer sowjetischer Truppen in Ungarn erhalten habe. Er sagte ihm, daß dies eine Verletzung des Warschauer Paktes sei und daß die ungarische Regierung von dem Vertrag zurücktreten werde, wenn die Verstärkungen nicht zurückbeordert wurden.“
Das heißt, daß die Regierung in Budapest nur einen letzten verzweifelten Versuch unternahm, sich der Verpflichtungen dieses Paktes zu entziehen, nachdem die Sowjetunion ihn ja schon gebrochen hatte, und das Land vor den hereinflutenden neuen sowjetischen Divisionen unter den Schutz der Vereinten Nationen zu stellen. Davon abgesehen: Obwohl die Dubcek-Gamitur noch bis zum letzten Moment Mitglied des Warschauer Paktes blieb, entkam sie der sowjetischen Intervention nicht — ein Beweis dafür, daß hier nicht der spezifische Charakter der ungarischen oder tschechischen Nation oder ihre politische Nüchternheit, wohl aber der Wille der Sowjetunion ausschlaggebend war.
Zehn Tage und ein halbes Jahr
Noch ein Unterschied zwischen Prag und Budapest. Im Jahr 1956 konzentrierten sich die Ereignisse auf eine hektische Periode von zehn Tagen. In der Tschechoslowakei verging mehr als ein halbes Jahr zwischen dem 3. Jänner 1968, der Ablösung Novotnys, und dem 4. August 1968, der Deklaration von Preßburg. Es ist klar, daß es sich in einer solchen langsamen Evolution durchdachter politisieren läßt, als wenn der Prozeß mit einem — durch fremde Panzer verursachten — Blutbad beginnt. Es ist ebenfalls klar, daß die tschechoslowakische Politik von 1968 die Erfahrungen der ungarischen Ereignisse benützte, genauso wie auch eine ungarische Politik im Jahre 1968 die Erfahrun
gen eines 1956 in Prag in Betracht gezogen hätte. Ein deutsches Sprichwort, das Bismarck stets gern anführte, sagt: „Wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer klüger."
Revolution und Evolution
Und schließlich gibt es da noch einen wichtigen Unterschied: 1956 und die ganzen vorhergehenden Jahre hatte die ganze Welt die Länder hinter dem Eisernen Vorhang
dazu ermuntert und aufgerufen, ihre Freiheit zu erringen. Die amerikanische „Liberation“-Politik, in deren Rahmen der Präsident der Vereinigten Staaten öfters ermutigende Worte an die Völker gerichtet hatte, war noch im vollen Gange. 1956 wurden die Ungarn von allen ermutigt und enthusiastisch gefeiert. Die Tschechen dagegen wurden von der ganzen westlichen Welt zur Nüchternheit und Zurückhaltung aufgerufen, und man brachte ihnen klar zur Kenntnis, daß sie auf keinerlei Hilfe rechnen könnten. Aus diesem Grunde hatte Dubcek nach der ungarischen Revolution die tschechische Evolution gewählt, und es ist wirklich traurig, daß — ob Revolution oder Evolution — das Ergebnis immer das gleiche bleibt, nämlich die bewaffnete Intervention einer totalitären Weltmacht.
So liegt der Unterschied also nicht in der Eigenheit der Völker, sondern in den Umständen. Das Wesentliche aber bleibt ein und dasselbe: Die Ungarn, Tschechen und Slowaken wollten alle die Freiheit, die ihnen die Geschichte zur Zeit verweigert. Dieses gemeinsame Schicksal sollte uns eine Anregung sein, die Konflikte der Vergangenheit zu vergessen und auf dieser traurigen Schicksalsgemeinschaft eine seelische Gemeinschaft der Donauvölker aufzubauen. Die Zukunft dieser Völker könnte dadurch nur gewinnen.
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