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Neue Chance 1985

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„Wenn wir uns nach einem raschen Blick auf den Zustand der amerikanischen Gesellschaft den gleichzeitig in Europa und im besonderen in Kontinentaleuropa herrschenden Verhältnissen zuwenden, bleibt uns ein Erstaunen nicht erspart."

So schrieb Alexis von Tocque-ville im Jahr 1830. Gar nicht so unähnlich formuliert es heute der stellvertretende Außenminister der USA, Botschafter Lawrence S. Eagleburger. Tocqueville meinte den Unterschied zwischen Demokratie und absoluten Monarchien. Eagleburger denkt an den Unterschied zwischen neuem Selbstbewußtsein und selbstquälerischen Zweifeln.

Die Amerikaner, meint Eagleburger, werden sich nicht in Isolationismus zurückziehen — das können sie sich nie wieder erlauben. Aber sie werden „Unilateralismus" praktizieren, also allein tun, was sie für richtig halten, wenn die Westeuropäer fortfahren, ihre Rolle im Bündnis nur noch im Wackeln der Zeigefinger zu sehen.

Eines Tages werden jene in Isolation erwachen, die im Streit über Agrarsubventionen und Frächterstreiks von der übrigen Welt abgekoppelt worden sind. (Auch machte schon 1983 der Handel der USA mit Asien um 30 Milliarden Dollar mehr als der mit Europa aus!)

Eagleburger, der leidenschaftliche „Europe-firster" im US-Außenamt (das er mit 30. April aus persönlichen Gründen verläßt), setzte bei ein paar Dutzend Diplomaten, Politikern und Publizisten, die vergangenes Wochenende in Baden bei Wien West/Ost-Beziehungen studierten, Nachdenkprozesse in Gang.

US-Botschafterin Helene von Damm hatte mit ihm und einigen Kollegen überzeugungsstärkere Kaliber als so manchen früheren Gast nach Österreich gelockt. Was diese zu bedenken gaben:

• Seit 1945 hat Europa bereits die längste Friedensperiode der letzten 200 Jahre erlebt; schon ist mehr Zeit als zwischen Napoleons Waterloo und dem Krimkrieg (38 Jahre) verstrichen.

• Wo es seither Kriege gab, fanden diese in atomwaffenfreien Regionen statt: „Wie kann man da die nukleare Abschreckung als unmoralische Politik verteufeln?" (Eagleburger)

• US-Vorleistungen im Rüstungsbereich (z. B. Verzicht auf

Neutronenwaffen und B-l-Bom-ber in der Carter-Ära) wurden von den Sowjets mit noch mehr nuklearer Aufrüstung und internationalen Abenteuern (Angola, Äthiopien, Afghanistan) quittiert.

Freilich heißt das nicht, daß Abschreckung nicht auch auf schrittweise sinkenden, nicht ewig steigenden Rüstungsebenen funktionieren könnte. „Warum hat jeder der früheren Präsidenten von Kennedy über Johnson, Nixon und Ford bis Carter Fortschritte bei Rüstungskontrollverhandlungen zustande gebracht — nur Reagan nicht?"

Diese Frage stellte nicht ein böswilliger europäischer Journalist, sondern der demokratische Präsidentschaftskandidat Walter Mondale bei einer Fernsehdiskussion am 28. März in New York.

Das vergessen die empfindlichen Dünnhäuter der Regierung Reagan gerne: daß die schärfste Kritik aus dem eigenen Land kommt, und nicht nur vom politischen Gegner, sondern auch von Rüstungskontrollunterhändlern früherer republikanischer Präsidenten, etwa Gerard C. Smith oder John B. Rhinelander (FURCHE Nr. 2/84).

Was so viele Amerikaner wie europäische Freunde der USA

verschreckt und das Bündnis belastet hat, war die martialische Rhetorik der Reaganiten in den ersten zwei Amtsjahren.

Mit der Präsidentenrede vom 18. November 1982 kam der Umschwung. Am 16. Jänner 1984 war Ronald Reagan friedlich wie eine Taube: Gewaltbändigung in allen internationalen Konflikten, Verringerung der Rüstungspotentiale, Verständigung der Supermächte, Nullösung für alle Kernwaffen ...

In Baden versicherte Botschafter Maynard W. Glittman (von der Diktion her ein harter „Falke"): „Vergessen wir nicht, daß die Sowjets die Verhandlungen bei Mittel- und Langstreckenraketen abbrachen, nicht wir. Warum sollten wir sie anbetteln, zum Verhandlungstisch zurückzukommen? Aber wenn sie zurückkehren wollen, werden wir es ihnen durch keinerlei Bedingungen schwermachen. Und wir werden mit neuen Ideen aufwarten."

Das ist auch in der Tat etwas, worüber man in diesem Jahr 1984 in Ruhe nachdenken kann und muß — denn kein Mensch erwartet vor den Präsidentschaftswahlen in den USA und der Konsolidierung der Herrschaftsverhältnisse im Kreml neue Initiativen oder gar Fortschritte.

Larry Eagleburger ist (mit gutem Grund) geradezu darauf versessen, einen Nachdenkprozeß über die Weiterentwicklung des transatlantischen Verhältnisses in Gang zu setzen. Er meint sogar, daß die neutralen Staaten Europas bei ihren demokratischen Freunden auch im Eigeninteresse auf den politisch-konzeptiven Allianzdialog drängen müßten.

Österreichs Abrüstungsbotschafter Heinrich Gleißner fand ein anschauliches Bild: „Neutralität ist wie der Zölibat — sinnvoll, wenn einige das überzeugt praktizieren; wenn's alle täten, stürbe die Menschheit aus."

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