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Nicht immer auf Rom warten!

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Wir leben in einer Zeit umwälzender Veränderungen. Unser Leben wird von Faktoren bestimmt, von denen noch unsere Eltern kaum zu träumen wagten. Institutionen wie zum Beispiel die Ehe, an deren Definition prinzipiell niemand zweifelte, sind wirklich ins Wanken geraten, ob uns das nun paßt oder nicht. Es ist nicht zu übersehen, daß etwa Entfernungen eine ganz andere Rolle spielen, die Welt kleiner geworden ist, daß Großfamilien in der städtischen Gesellschaft von heute nicht mehr miteinander leben können usw.

All das wirft Probleme auf, die nach alten Regeln nicht mehr gelöst werden können. Es führt zu nichts, auf ganz neue Fragen alte Antworten anzubieten. Und doch genau das wird der Kir che,’ wird uns Christen vorgeworfen. Versuchen wir aber nicht wirklich, uns immer noch den Himmel dadurch zu verdienen, daß wir dieser Welt entsagen, wo es uns gelingt, und den Kopf in den Sand stecken, wenn es schwierig wird und wenn wir Prinzipien über Bord werfen müßten?

„Die Kirche“, hat mir gestern eine junge Frau bei einem Interview gesagt, „kann mich ja gar nicht verstehen. Beim Papstbegräbnis in Rom habe ich sie mir wieder angeschaut - lauter alte Männer, die sich gegenseitig Weihrauch streuen“. Als ich ihr klarmachen wollte, daß wir alle die Kirche sind, jeder einzelne von uns, sah sie mich verständnislos an, erzählte von ihren Begegnungen mit Geistlichen und verwies auf die Haltung der offiziellen

Vertreter der Kirche zu aktuellen Fragen. Nach Annäherungsversuchen ist diese Frau gerade wieder dabei, sich von der Kirche zu entfernen.

Ich weiß, daß das keine sehr stichhaltigen Argumente sind, aber ich weiß auch, daß diese Frau kein Einzelfall ist. Ist da nicht bei uns etwas faul? Haben wir noch immer nicht begriffen, daß uns diese Welt etwas angeht, daß wir dazu aufgerufen sind, froh, erfüllt und glücklich zu sein, daß wir das Angesicht dieser Erde verändern sollen? Verpflichtet uns nicht die Liebe dazu, uns mit den geänderten Verhältnissen intensiv auseinanderzusetzen, unser Christentum zu entramschen? Müssen wir nicht schon im Interesse unserer Kinder heiße Eisen angreifen?

Wenn wir uns erst dann aus unserem Schneckenhaus heraustrauen, wenn sich Rom geäußert hat, müssen wir den Kontakt zu unseren Mitmenschen immer mehr verlieren!

Ich habe viele Freunde und stelle zum Beispiel fest, daß viele ihrer Ehen entweder auseinandergehen oder mühsam und unter Qualen aufrechterhalten werden. Die allgemeine Haltung vieler Christen zu dieser Tatsache ist eigentlich jämmerlich: sie meinen, die Welt sei eben schlecht.

Von sich selbst haben sie eine nicht viel bessere Meinung und plagen sich durch das Jammertal, in dem sie glauben leben zu müssen. Stimmt das denn wirklich? Bedarf nicht eher unsere Vorstellung von Ehe und Familie einer gründlichen Revision? Es ist noch keine hundert Jahre her, da haben Familien mit Großmüttern, Verwandten, Mägden und Knechten zusammengelebt, da haben sich auch in billigen Mietskasernen Gemeinschaften gebildet, die weit über den engen Kreis von Vater, Mutter und Kind hinausgingen. Jeder war gezwungen, mit viel mehr Menschen intensiven Kontakt zu pflegen, auszukommen.

Heute ist die Familie auf eine ganz kleine Zahl von Menschen zusammengeschrumpft. Ihr Horizont ist so beschränkt, daß die Kinder, die Männer und jüngst auch die Frauen ausbrechen. Sie- versündigen-’siclv wie -’Wir Christen geneigt sind änzunehmen. Ist es aber’riieht viettelötttr lebenswichtig" für die Gesellschaft von morgen, Kontakte auszuweiten? Sollten wir die Familie von morgen vielleicht nicht mehr auf Treue um den zusammengeschrumpften Herd, sondern auf Öffnung nach außen anlegen?

Ich glaube wohl, daß die Ehe eine auf Dauer eingestellte Verbindung zweier Menschen sein sollte. So wie wir das aber bisher ausgelegt haben, kann es nicht mehr funktionieren.

Wenn wir Christen freilich immer erst eine Entscheidung aus Rom erwarten, bevor wir wagen, uns eine Meinung zu bilden, dann werden wir nicht nur diese Entscheidungen sehr erschweren, wir werden langsam an Isolation zugrunde gehen und im Himmel sehr schlecht dastehen, wenn wir gefragt werden: Wieviel hast Du geliebt? Wie sehr hast Du mit Deinen Talenten gewuchert?

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