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Ost und West haben den Geist zerstört

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Als Atheistin aufgewachsen, als Dozentin Mitglied der sowjetischen Intelligentsia erlebte Tatjana Goritschewa eine „paulinische” Bekehrung. Gründung eines christlichen Seminars und einer Frauenzeitschrift trugen ihr Verfolgung und Abschiebung in den Westen ein.

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Als Atheistin aufgewachsen, als Dozentin Mitglied der sowjetischen Intelligentsia erlebte Tatjana Goritschewa eine „paulinische” Bekehrung. Gründung eines christlichen Seminars und einer Frauenzeitschrift trugen ihr Verfolgung und Abschiebung in den Westen ein.

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FURCHE: Sie haben den Großteil ihres Lebens in der Sowjetunion verbracht und leben nun seit Jahren im Westen. Wie beurteilen Sie die geistige Situation in Ost und West?

TATJANA GORITSCHEWA: Derselbe Geist steht hinter Kapitalismus und Kommunismus. Je länger ich hier lebe, desto klarer sehe ich, daß die Menschen hier sehr manipuliert sind. Im Osten sind die Menschen durch Angst, vulgäre und primitive Repression und Verfolgung manipuliert. Hier im Westen hingegen regieren Geld, Reklame, Fernsehen, hier beherrscht uns eine geistige Oberflächlichkeit und der praktische Materialismus der Sachen. Man merkt es an den toten Gesichtern — sowohl im Fernsehen, wie in der Reklame. Die Masken werden als einzige Wahrheit demonstriert.

FURCHE: Wie erleben Sie das persönlich in ihrem jetzigen Alltag?

GORITSCHEWA: Ich bin Emigrantin und lebe daher in einer Situation, die doppelt schwierig ist. Wenn ich meine jetzige Situation mit der in Rußland vergleiche, so muß ich folgendes sagen: Sicher war ich damals verfolgt. Aber ich lebte im Paradies, in einer Atmosphäre, wo alle geholfen haben, wo wir uns gegenseitig getragen haben. Wir erlebten damals sehr unmittelbar die Wirkung des Heiligen Geistes, der uns in dieser Grenzsituation geholfen hat. Wenn es darauf ankam, spürten wir die göttliche Hilfe unmittelbar.

Um diese Quellen jetzt zu finden, muß ich große Anstrengungen machen, muß ich viel kämpfen, muß ich wirklich suchen. Natürlich habe ich auch hier Menschen gefunden, die heilig sind. Aber die allgemeine Atmosphäre ist dem feindlich. Diese Menschen sind alleine.

FURCHE: Meinen Sie, daß die Christen im Westen eher Einzelkämpfer sind als im Osten?

GORITSCHEWA: Ja, so ist es. Dabei geschieht aber alles, um Gemeinschaft zu schaffen. Dennoch findet man diese Gemeinschaft hier nicht. Zwar spüre ich immer wieder auch die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Aber tatsächlich erlebe ich immer nur vereinzelte Christen.

FURCHE: In der Sowjetunion haben Sie eine Frauenbewegung ins Leben gerufen und auch eine Zeitschrift für Frauen herausgegeben. Wie sehen Sie die Frauenbewegung im Westen?

GORITSCHEWA: Die Frauen in Rußland haben die gleichen Gaben wie die Frauen im Westen: Uberall ist bei Frauen die Gabe der Liebe stärker ausgeprägt. Und da die heutige Welt sehr grausam ist - die westliche Zivilisation ist sehr kalt und mechanisiert —, fehlt die Liebe auch bei sehr vielen Frauen. Ich meine damit eine schaffende, schöpferische Liebe, eine Liebe, die alles riskiert, die zur Torheit wird.

FURCHE: Wie würden Sie diesbezüglich die Frauenbewegung beurteilen?

GORITSCHEWA: Ich bin als Feministin gekommen, mußte aber feststellen, daß die Frauenbewegung hier vor allem zerstörerisch ist. Sie wird dem Heute nicht gerecht, ist eigentlich überholt, hat keine Perspektive. Nur gegen die Männer ausgerichtet zu sein, genügt nicht. Das Kultivieren von Haß bringt nichts.

FURCHE: Die Frauenbewegung tritt für Selbstverwirklichung der Frau ein. Halten Sie nichts davon?

GORITSCHEWA: Die Entfaltung der Persönlichkeit kann auf verschiedenen Wegen geschehen —aber nicht auf dem Weg des Hasses und der Konfrontation. Bei aller Verschiedenheit der Wege führt die Entfaltung nur über die Liebe. Nur in einem anderen kann ich mich selbst verwirklichen. Nur indem ich mich ganz hingebe, kann ich mich selbst finden. Das ist der Weg der Selbstverwirklichung.

FURCHE: Also nur Kritik für die westliche Frauenbewegung?

GORITSCHEWA: Ich meine, daß viele dieser Frauen wegen schlechter Erfahrungen ideologisch verführt wurden. Allerdings muß man ihnen einiges zugute halten: Sie haben auf der Ebene der Gesetze manche Ungerechtigkeit erfolgreich bekämpft. Und sie haben auch bewußt gemacht, daß die Frauen tatsächlich von vielen verachtet werden. Hier im Westen geht es den Frauen in mancher Hinsicht besser als in Rußland. Andererseits sind sie mehr versklavt.

FURCHE: Inwiefern?

GORITSCHEWA: Hier ist die traditionelle Struktur der Gesellschaft noch nicht so zerstört wie im Osten. Die russischen Frauen sind so emanzipiert, daß sie sogar doppelt so männlich sein müssen wie die Männer. Sie sind gezwungen stark zu sein. Indem die Frau

„Ich bin als Feministin gekommen, mußte aber feststellen, daß die Frauenbewegung hier vor allem zerstörerisch ist.” hier noch die Möglichkeit hat, das private, stille Leben zu haben, ist sie nicht so aktiv wie in der Sowjetunion.

FURCHE: Würden Sie das als Nachteil ansehen?

GORITSCHEWA: Einerseits ist es ein Vorteil, daß die Frau noch die Möglichkeit hat, zwischen Arbeit und Familie zu wählen. Andererseits ist es ein Nachteil, weil dadurch das Vorurteil noch nicht verschwunden ist, daß die Frau nur zu Hause sitzen soll, daß es ihre einzige Aufgabe sei, sich nur mit ihren Kindern zu beschäftigen.

FURCHE: Sind Kinder also nicht so wichtig?

GORITSCHEWA: Kinder sind natürlich Gottes Geschenk. Aber sie sind nicht das einzige, was existiert. Es gibt auch geistige Kinder. Wir brauchen auch Schwestern im Kloster und Frauen, die geistige Früchte bringen. Auch verheiratete Frauen mit Kindern dürfen sich nicht auf diese begrenzen. Damit meine ich nicht, daß man die eigenen Kinder - so-, lange sie der Betreuung bedürfen — vernachlässigen sollte, wie dies heute so oft geschieht. Hier haben Mütter schon Veranwortung.

FURCHE: Ist Mutterschaft also doch wichtig für die Frau?

GORITSCHEWA: Ja, aber es geht nicht nur um die natürliche Mutterschaft. Jede Frau ist Mutter vor allem auf der geistigen Ebene. Die Mutterschaft verstehe ich viel weiter als nur die physische Mutterschaft. Die Frage nach Vater- und Mutterschaft muß anders gestellt werden. Man darf sie nicht nur von der physischen Ebene aus sehen.

FURCHE: Mutter- und Vaterschaft sind also primär auf geistiger Ebene zu sehen?

GORITSCHEWA: Ja, unbedingt. Ich habe meinen ersten Vater im Himmel gefunden. In der Familie war ich ganz fremd, eigentlich eine Waise. Ich will nicht sagen, daß ich meinen physischen Vater nicht liebe, aber meinen eigentlichen geistigen Vater habe ich erst viel später gefunden, einen Mönch.

Dieser Weg ist eigentlich heute für viele ganz normal in einer Zeit, in der wir das Natürliche so stark zerstört haben. Diese Zerstörung findet ja vor allem auch im Westen statt. Hier ist die Zivilisation schon so stark, daß die Kultur und die Natur schon fast ganz zerstört sind — ganz zu schweigen vom Geist. Bei allem aber muß man vom Zentrum, also vom Geist her anfangen.

FURCHE: Haben Sie den Eindruck, daß sich der Westen dieser zentralen Bedeutung des Geistigen bewußt ist?

GORITSCHEWA: Im Osten ist die Zivilisation noch nicht so perfekt. Dennoch haben wir dort schon sehr viel verloren, denn der Kommunismus zerstört die Gesellschaft sehr wirksam — bis auf null. Hier aber geschieht eine Verwandlung zu einer dämonischen Welt durch unsere Unfähigkeit, den inneren Frieden zu finden und uns zu versöhnen. Alles wächst so schnell — und der Geist ist zu schwach. In manchen Situationen sehe ich, daß der Westen sehr weit in Richtung Nihilismus gegangen ist. Ich erkenne das besonders deutlich, weil ich aus einer anderen Welt gekommen bin. Ich kann da vergleichen. Mechanisierung und Automatisierung sind Anzeichen dafür.

FURCHE:Das sind aber Früchte von Wissenschaft und Technik. Meinen Sie, daß beide geistig nicht neutral sind?

GORITSCHEWA: Glaubenslose Wissenschaft ist gefährlich. Wissenschaft kann nicht allein existieren. Dahinter steckt Geistiges. Es gibt kein reines Wissen. Dieses ist immer auch durch Leidenschaften bestimmt. Als Christen müssen wir den Wissenschaften aber durchaus keine Absage erteilen. Wir müssen sie nur verklären —wie übrigens auch unsere Reichtümer. Für all das sollten wir auch viel dankbarer sein.

FURCHE: Wie könnten wir zu größerer Dankbarkeit finden?

GORITSCHEWA: Wir müssen lernen, uns von vielen Leidenschaften und Gebundenheiten loszusagen. Sie machen uns kleinmütig. Wir sorgen uns dauernd darum, etwas zu verlieren. Ich glaube, wir müßten viel ärmer sein, besonders wir Christen - vor allem wenn wir bedenken, daß so viele Menschen leiden: in der Zweiten und in der Dritten Welt. Alles leidet, nur Europa glaubt, oberflächlich reich bleiben zu können. Man muß es klar sagen: Wir sind oberflächlich, wir sind stumpf und geistig ahnungslos.

FURCHE: Sind da die neuen Bewegungen, wie Friedens- und Frauenbewegung ein Ausweg?

GORITSCHEWA: Es geht nicht so sehr um die Bildung einer Bewegung, sondern um die Entfaltung von Persönlichkeiten. Wir brauchen starke Persönlichkeiten. Die Bewegungen schmecken nach Kollektiv. Die Menschen verlieren in ihnen die Gesichter. Jeder Mensch sollte eine eigene Bewegung sein. „Ihr seid das Licht der Welt, das Salz der Erde”, ist uns gesagt. Und das Salz ist die christliche Persönlichkeit. Jeder von uns muß versuchen, den Raum zu gewinnen, die Welt zu verklären. Dann ist es schon möglich, daß aus diesen vielen eine Bewegung, etwas Neues entsteht.

Das Gespräch führten Alexa und Christof Gaspari.

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