6841157-1975_44_13.jpg
Digital In Arbeit

Protokolle der Angst II

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist nichts Besonderes. Es geht sicher wieder vorbei. An manchen Tagen ist es auch so gut wie gar nicht. An manchen Tagen bleibt die Uhr nicht stehen. Nur an manchen Tagen bleibt es.

Es hat mit dem Wetter nichts zu tun. Man könnte meinen, der Föhn machte mir zu schaffen, aber das entspricht nicht der Tatsache. Der Föhn ist unbeteiligt. Ich liebe das Wetter der Bestellfarben. Die Schatten ziehen ihre Grenzen nicht mit dem Messer, alles ist eingeebnet. Auch die Gewitter haben mir nichts an. An manchen Tagen allerdings — einer hebt die Hand, einer spricht, einer sieht... Es ist nichts Besonderes, es geht sicher wieder bald vorbei. An manchen Tagen ist es auch so gut wie gar nicht.

Ich kann es nicht erklären. Wenn es kommt, bin ich immer unvorbereitet. Ich erwarte es nie. Ich bin immer mit anderem beschäftigt. Es kündigt sich nie an. Wenn es da ist, darf ich nicht darüber sprechen. Die Hände ruhig halten, die Schritte zählen. Es darf keiner zu viel sein. Kein Haus zu viel abgehen. Auch die Zahl der Fenster darf nicht überschritten werden. Die Fenster zählen, die Haustore zählen, die Häuserzeilen zählen. Es könnte sonst sein, daß man sich wiederfindet, wo man sich nicht mehr wiederfindet. Es könnte sonst sein, daß man sich an einem Ort wiederfindet, den man nicht gewollt hat. ,

Falls Sie wissen, was ich meine, beachten Sie alles, beobachten Sie jede Ihrer Bewegungen. So lange Sie Ihre Schritte und Ihre Bewegungen unter Kontrolle halten, solange Ihnen kein Wort entkommt, fällt es niemandem auf. Sprechen Sie keinesfalls darüber. Einer, der es nicht kennt, wird es auch nicht verstehen. Vor allem: lassen Sie sich in keine Panik jagen. Es geht bald vorbei, es dauert nie lange, auch nicht, wenn Sie den Eindruck haben, daß die Abstände der klaren Gedanken immer kürzer werden und die Zeiten der stillstehenden Uhren immer länger. Versuchen Sie nicht, sich abzulenken. Wenn es da ist, wird jede Ablenkung unmöglich, jeder Vorsatz undurchführbar. Sie haben vielleicht noch eine Erinnerung, vielleicht haben Sie auch keine mehr. Es ist in jedem Fall wichtig, ständig zu üben, die Bewegungen unter Kontrolle zu halten, kein Wort entkommen zu lassen. Wenn es soweit ist, wird man jede Ihrer Bewegungen, jedes Ihrer Worte messen und wägen.

Behalten Sie alles für sich. Wenn es soweit ist, wird man Sie früh genug um Ihr Geheimnis zu bringen suchen, um Ihre Worte. Wenn Sie sprechen, ist es um Sie geschehen. Keiner wird verstehen. Alle werden fragen, wie Leute fragen, die nicht wissen, wovon sie sprechen. Erwarten Sie kein Verständnis, erwarten Sie vor allem keine Hilfe.

Schweigen Sie, Sie werden sonst in jedem Falle nur Entsetzen ernten. Die, die fragen, kommen aus einer anderen Welt. An den Tagen, an denen es ist, kommen sie aus einer anderen Welt.

Es gibt keine Abwehr der Zeit, da Sie sich nicht mehr zurechtfinden, in der sich der Tag verfärbt, in der jeder Ihr Feind ist, in der Sie ihrer Angst nicht Herr werden, in der. Ihnen die Worte, die Bewegungen, Ihre Umgebung davonläuft, als hätten Sie sie nie gekannt. In der Ihnen alles fremd ist. In der Sie unaufhörlich sprechen und Sie keiner versteht. Suchen Sie nicht in Ihrer Erinner rung. Wenn es ist, werden Sie niemanden und nichts wiedererkennen. Wenn es ist, sind Sie ausgeliefert.

Lassen Sie sich trotzdem in keine Panik jagen, die Angst läßt sich nicht bekämpfen. Laufen Sie nicht, atmen Sie nicht schwer, verteidigen Sie sich nicht. Der Feind ist überall und unsichtbar. Es ist ein Kampf mit den Flügeln der Windmühle. Es ist ein aussichtsloser Kampf, ein Kampf ohne Hoffnung. Ihre Angst wird Sie überall einholen, heimholen.

Es gibt keine Sicherheiten für den, den es einmal befallen hat. Er kommt nicht mehr aus. Lassen Sie sich trotzdem in keine Panik jagen, es ist ja nichts Besonderes. Es betrifft nur Sie, es betrifft nicht den Lauf der Welt, es betrifft nicht den Lauf der Gesellschaft. Es ist keine ansteckende Krankheit, vor allem — es geht wieder vorbei. Am Anfang geht es immer wieder vorbei und danach ist es, als ob es nie gewesen wäre, nichts Besonderes, irgendwie sogar alltäglich.

Es beginnt immer irgendwie alltäglich. Zuerst ist es nur die Feindschaft mit den Blicken, dann mit den Bewegungen. Dazwischen ist an manchen Tagen noch alles gut. Man geht über die Straße und niemand begegnet in feindlicher Absicht. Man muß nicht die Haustore zählen, um den Weg zu finden. An diesen Tagen erinnert man sich aller Vorsätze, setzt einen Fuß vor den anderen und geht. Tut, was man tun will, und es geschieht alles, wie es geschehen soll. An diesen Tagen weiß man, daß noch etwas Zeit bleibt, daß es noch nicht soweit ist, glaube ich, daß meine Angst nur meine Angst ist und die anderen es noch nicht bemerkt haben. An diesen Tagen weiß ich, daß sie mich noch nicht holen, um sich vor meinen Worten zu schützen und um meine sich verflüchtigenden Gedanken einzufangen, meine nicht mehr kontrollierbaren Schritte zu zähmen — für mich, weil ich selbst es dann nicht mehr können werde.

An diesen Tagen sehe ich noch ganz klar. An diesen Tagen weiß ich, was mir geschehen wird, weiß ich, was den anderen geschehen wird in naher Zukunft. Weiß ich, wie das alles enden wird, enden, enden, enden. Weiß ich, daß es mich überfallen wird, wenn ich es nicht erwarte, wenn es keiner erwartet. Wenn ich mit anderem beschäftigt bin, wenn alle anderen anderes tun, wenn ich denke, daß ich nur nach Hause gehen muß, um zu Hause zu sein, die Türen nur geöffnet werden müssen, um offen zu sein. Wenn ich denke, daß mich nichts von den anderen unterscheidet und die anderen nichts von mir. Wenn ich denke, daß wir alle gleich sind.

Es kommt, es wird kommen. Es ist trotzdem nichts Besonderes, es geht sicher wieder, hoffentlich, vielleicht diesmal noch, vorbei. Erschrecken Sie nicht. Das Entsetzen steht nur mir zu. Es ist nichts Besonderes, es geht — vielleicht — diesmal noch vorüber. Es ist ganz einfach, daß ich... daß Sie ... daß wir allmählich wahnsinnig werden...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung