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Sein und Leben für die andern

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Bischof Alfons Nossol wurde 1932 in Brozec (Schlesien) geboren. Er studierte in Nysa (Neiße), Oppole (Oppeln) und Lu-blin und wurde 1957 zum Priester geweiht. Nach seiner Habilitierung an der Katholischen Universität Lublin wirkte er seit 1967 als Dozent am Priesterseminar in Nysa-Opole, dann als Professor für Dogmatik an der Universität Lublin. 1977 wurde er von Kardinal Wyszynski zum Bischof von Oppeln geweiht. Seine Gedanken über ein zeitgemäßes Modell christlichen Lebens hat Stanislaw Fracz für die FURCHE aus dem Polnischen übersetzt.

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Bischof Alfons Nossol wurde 1932 in Brozec (Schlesien) geboren. Er studierte in Nysa (Neiße), Oppole (Oppeln) und Lu-blin und wurde 1957 zum Priester geweiht. Nach seiner Habilitierung an der Katholischen Universität Lublin wirkte er seit 1967 als Dozent am Priesterseminar in Nysa-Opole, dann als Professor für Dogmatik an der Universität Lublin. 1977 wurde er von Kardinal Wyszynski zum Bischof von Oppeln geweiht. Seine Gedanken über ein zeitgemäßes Modell christlichen Lebens hat Stanislaw Fracz für die FURCHE aus dem Polnischen übersetzt.

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Das Wesen christlicher Wahrheit -das muß betont werden - schließt den Imperativ zu ihrer Verwirklichung ein. Christliche Wahrheit kann nur in der Dynamik des Tuns bestehen, und zwar des Tuns in der Liebe.

Die ureigenste Form der christlichen Wahrheitsverwirklichung besteht einfach in der Nachfolge Christi, in seiner radikalen Hinwendung zum Nächsten, in seinem Sein und Leben für die anderen. Diese Haltung und Orientierung des Lebens auf die anderen umschreibt die zeitgenössische Theologie mit dem Begriff „Proexistenz“. Die Nachfolge Christi in seiner Proexistenz - als Gegenwirkung zum egozentrischen Lebensstil des heutigen Konsumenten der Errungenschaften technischer Zivilisation - sollte zum aktuell wesentlichsten Postulat christlicher Verhaltensweise werden.

Der definitive und unüberholbare „Ort Gottes“ für uns Christen ist und bleibt für immer Jesus Christus. Das Christusereignis ist die Epiphanie

Gottes: Wer den Sohn sieht, sieht den Vater (Jo 14, 9).

In Jesus Christus konzentriert und vereinigt sich sowohl unser Glaube als auch unser Handeln. Dafür darf das authentische Kriterium christlichen Handelns nur christologisch bestimmt werden. Dieses Kriterium ist jedoch kein abstraktes Etwas, auch nicht eine Idee oder irgendein Prinzip, sondern die konkrete, lebendige Person Jesu Christi als das Maß und Vorbild menschlichen Handelns.

Jesus Christus als konkrete Norm deutet auf eine völlig neue Grundeinstellung und Grundorientierung des Menschen hin; er fordert ein von Grund aus verändertes Bewußtsein, eine neue existentielle Grundhaltung, eine andere Wertskala und ein radikales Umdenken und Umkehren des ganzen Menschen.

Als eine historische Gestalt vermag Jesus zweifellos ganz anders zu überzeugen als ein theoretisches Prinzip, weil er als Mensch diesen neuen Weg einfach vorgelebt hat und gerade so als konkretes Lebensmodell für andere gelten kann. Als konkrete, geschichtliche Person besitzt Jesus eine Anschaulichkeit, Vernehmbarkeit und Realisierbarkeit, die einer ewigen Idee oder einem abstrakten Prinzip fehlen. Er ist in Person die Einladung „Du darfst“, der Appell ..Du sollst“, die Herausforderung „Du kannst“ - für den einzelnen wie für die Gesellschaft (H. Küng).

Jede Epoche und Weltstunde ist für uns eine theologische Wissensquelle für die Erkenntnis Jesu Christi. Rückblickend darf somit vom lehrenden Christus der ersten Jahrhujn-derte die Rede sein, vom Allherrscher der ausgehenden Antike, vom Imperator der romanischen Kirche, dem Schmerzensmann in der Zeit der Pest und der Kreuzzüge und schließlich vom Gekreuzigten der Reformationszeit. Andere Aspekte der Gestalt Jesu Christi exponieren noch Bilder im Zusammenhang mit der Herz-Jesu- und Christ-Königs-Frömmigkeit.

Diese Vielfältigkeit der Jesus-Vorstellungen ist ein Zeugnis vom lebendigen Glauben der Theologen und Gläubigen, denen Christus stets als der rettende Heilbringer jeweils für ihre Zeit vor Augen stand. Die Zeitgemäßigkeit und Notwendigkeit spielten dabei eine gewichtige Rolle.

In enger Anknüpfung an diese Entwicklung des Jesusbildes gelangen wir heute zum Modell des „proexistierenden“ Christus. In der Not der allgemeinen Bedrohtheit, die ein völliges Fehlen von Liebe und einen extremen Egoismus bedeutet, hält der Mensch Aufschau zu dem, der allein seine selbstlose Proexistenz gelebt hat: Jesus Christus, der Sohn Gottes.

Jesus hat sich - gemäß den Evangelien - für die Armen und Sünder bis in den Tod hinein engagiert. Ein so selbstloses Transzendieren auf den Nächsten hin ist jedoch anthropologisch nur möglich als Auswirkung und Folge eines selbstentäußernden Transzendierens auf Gott hin. Nur ein von Gott aus dem Mutterboden seines eigenen Selbst entwurzelter und herausgerissener Mensch kann so radikal „dahingegeben“ werden für das Heil der Welt.

Jesu Verhalten wird in der Tat im Neuen Testament wesentlich als dienende Liebe „für uns“ bestimmt. „Darin haben wir die Liebe erkannt, daß jener sein Leben für uns hingegeben hat; so müssen auch wir unser Leben für die Brüder hingeben.“

Nachfolge Christi bedeutet in diesem Zusammenhang, gesinnt sein wie Jesus Christus; als solche vollzieht sie sich in seiner Nachahmung. Dabei geht es keineswegs um einen sklavischen Vollzug äußerer Züge des Lebens Jesu, sondern um Einstimmung in seine Lebenshaltung in Liebe, in Gehorsam gegenüber dem

Vater, in der radikalen Zuwendung zu den Mitmenschen. Nachfolge Christi soll somit die innere Einheit von Gottes- und Menschenhebe widerspiegeln und im Vollzug der Proexistenz Christi zum Ausdruck kommen.

Christliche Existenz ist einfach eine Proexistenz; Christsein bedeutet wesentlich den Ubergang vom Sein für sich selbst in das Sein füreinander. Im Prinzip „für“ drückt sich das grundsätzlichste Gebot der christlichen Existenz aus. Christsein muß eine Trennung von der Zentrierung des Lebens auf das eigene Ich bedeuten, um seine Existenz gänz-

lich mit der Gott und dem Menschen zugewandten Existenz Jesu Christi zu verbinden.

Das volle und authentische Christsein postuliert den Vollzug von Jesu Christi Proexistenz nicht nur in ihrer Radikalität, sondern auch in ihrer Universalität, in bezug auf jeden Menschen und die ganze Menschheit. Seit der Menschwerdung ist jeder für den anderen Bruder da; die ganze Menschheit wurde zu einer „Familie Christi“. Auf Grund dessen wird wahre zwischenmenschliche Solidarität erst auf der Ebene der christlichen Proexistenz authentische Wirklichkeit.

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