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Sterbehilfe ist Lebenshilfe

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Der moderne Rechtsstaat bekennt sich zum Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit für jeden Menschen. Wie verhält sich die oft geäußerte Forderung, jeder Mensch müsse ein Recht auf einen natürlichen Tod haben, zu diesem verfassungsmäßig verankerten Lebensrecht? Ist das Recht auf einen natürlichen Tod in dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eingeschlossen?

Im Blick auf medizinische Möglichkeiten fragen heute viele — nicht zuletzt die Ärzte selbst —, ob es menschenwürdig, ob es dem Kranken wie dem Betreuenden zumutbar sei, alles zu tun, was an sich naturwissenschaftlich-technisch noch möglich wäre. Die Forderung, fidea- TbÄ sjtö. Grenze des. Lebens zu -achten,, entspringt so der, Einsicht, daß der Mensch auf keinen Fall zum Objekt medizinischer Selbstbehauptung werden dürfe. Mit diesem gewissermaßen modernen, durch die neueste Entwicklung bedingten Postulat verbindet sich aber leicht der uralte Wunsch auf Verkürzung sinnlos erscheinenden Leidens.

Bedenkt man, daß der Eindruck der Sinnlosigkeit auf einem allgemeinen Sinnverlust und einer Unfähigkeit zur Verarbeitung eigener wie fremder Leiden beruhen kann, so wird die Interessenlage erst recht komplex. Das geltende Recht geht von dem mutmaßlichen Interesse des Patienten aus, solange wie möglich am Leben erhalten zu bleiben. Der unterschiedlich motivierte Wunsch vieler zielt darauf, vor einer aufgezwungenen Lebensverlängerung geschützt zu werden. Unser aller Auftrag ist es, nach einem Weg zu suchen, der den teils gegenläufigen Interessen gerecht wird und die Lösung nicht mit einem zusätzlichen Sinnverlust bezahlt, sondern zu einer vertieften « Einsicht in die menschlich-existen-tielle Bedeutung des Leidens führt. Wir möchten darum das Hecht auf einen natürlichen Tod viel lieber verstehen als das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben.

Tod und Sterben fallen nicht einfach zusammen. Der Tod bedeutet ein Ende, einen Zustand. Das Sterben dagegen ist der Weg, den der Mensch in seiner letzten Lebensphase bis zum Tod zurücklegen muß. Es ist immer ein kürzeres oder längeres Stück Leben. Der Beistand, den wir dem Sterbenden leisten, ist daher immer ein Stück Lebenshilfe, eine Hilfe im letzten beschwerlichen Stück unseres Lebens.

Wenn es zum Auftrag des Menschen gehört, das Sterben als ein Stück Leben menschenwürdig zu durchstehen, dann sollte man die Diskussion über Sterbehilfe nicht vornehmlich oder gar ausschließlich im Blick auf äußerste Grenzfälle führen. Unsere Aufgabe Sterbenden gegenüber erschöpft sich nicht in ärztlichen Maßnahmen. Ich fürchte sehr, daß wir im Augenblick in Gefahr sind, im theoretischen Streit

über Grenzfragen der ärztlichen Sorgepflicht an den wirklichen Problemen der notwendigen Sterbehilfe vorbeizusehen. Unsere Kliniken dürfen nicht bloß „Service-Stationen optimaler biotechnischer Versorgung“ sein. Es sollten ein Klima geschaffen und eine personale Hilfe ermöglicht werden, die dem Verlangen der Sterbenden nach Beistand entspricht.

Die Zahl der Menschen, die die letzten Stunden ihres Lebens bewußt erfahren und nach Hilfe verlangen, ist größer, als man allgemein vermutet. Verschiedene Untersuchungen der letzten Zeit kommen auf konvergierende Ergebnisse: 75 Prozent der Patienten sind während der letzten Stunde ihres Lebens zeitlich und örtlich orientiert. Die meisten erleben das Sterben bewußt mit, wobei mehr als 25 Prozent bis 15 Minuten vor dem Tode noch voll ansprechbar sind. Die Hälfte der Patienten fühlt das herannahende Ende, wobei ein Viertel es spontan angibt, ein Viertel erst auf Befragen nach dem Befinden.

Witzel hat seine Aufzeichnungen über die Gespräche mit Sterbenden verglichen mit einer Unterhaltung über Tod und Sterben bei einer gleichen Zahl gleichaltriger chronisch Kranker, deren Leiden nicht zum Tode führte. Dabei ergab sich, daß von den Sterbenden nur zwei Patienten Angst vor dem Tode hatten, bei den chronisch Kranken dagegen 35. Ähnlich signifikant ist der Unterschied bei der Frage nach dem Weiterleben. Von den Sterbenden glaubten 61, von der Kontrollgruppe nur 24 an ein Weiterleben nach dem Tod. Die Nähe des Todes mit der Notwendigkeit, aber auch mit der Hilfe zu einer existentiellen Verarbeitung dürfte der Grund zu diesem Ergebnis sein. Es ist allerdings viel Können vonnöten, um zu empfinden, was der Patient hinter seinem Sprechen, seinem Schweigen oder seinen Gesten an Wünschen und Gefühlen auszudrücken versucht. Entsprechend hat er dann ein Recht auf ehrliche Information und einen Beistand, ein Bei-ihm-Sein, das es ihm ermöglicht, auf persönlicher Ebene mit seinem Sterben fertigzuwerden und seinen Tod zu sterben.

Nicht jede Frage verlangt sogleich eine erschöpfende Antwort. Wichtiger ist, aus der Frage das innere Empfinden , herauszuspüren. Auch die sogenannten negativen Gefühle der Angst, der Aufsässigkeit und des Kummers müssen mitgetragen und bejaht werden. Die Aufmunterung, tapfer zu sein, ist nicht der Weisheit letzter Schluß, um Sterbenden zu helfen, ihre Gefühle richtig zu verarbeiten. Für den Prozeß des Sterbens ergeben sich fünf gewissermaßen typische Phasen: Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens; obwohl der Patient die Diagnose wissen wollte, und man ihm einige behutsame Hinweise gegeben hat, stemmt er sich nun mit allen Mitteln gegen den Befund. Verschlechtert sich der Zustand, folgt möglicherweise eine Phase des Zornes, einer Auflehnung gegen das Schicksal. Sie kann bald in eine Phase des Verhandeins übergehen. Man macht Versprechungen und Vorsätze, man zündet Kerzen an und verspricht Wallfahrten, wenn man es nochmals schaffen sollte. Verständlich ist, daß bei einer weiteren Verschlechterung sich eine depressive Phase einstellt, die aber dann schließlich im letzten Schritt in die Phase der inneren Zustimmung mündet.

Dieser letzte Schritt hat auf dem Hintergrund der Unentrinnbarkeit des Todes zunächst g-awiß den Charakter des Hinnehmens. Gerade dieses Hinnehmen gewinnt aber im Zusammenhang mit dem Verständnis des gesamten Lebens einen inneren Sinn. Manchem bietet sich vielleicht hier überhaupt eine Chance, erst den Sinn des Lebens in seiner Ganzheit zu entdecken. Leben ist Gabe, eine vor die Füße gelegte Wirklichkeit, um die wir nicht gebeten haben. Leben ist darum nicht eine unendliche Leistung, sondern eine beschränkte Aufgabe, die es in dieser Beschränkung zu erfüllen gilt. Zum Sterben ja sagen, heißt zum Leben in seiner Begrenzung ja sagen.

Die Hoffnung auf Ewigkeit besagt nicht eine Erwartung eines Immer-weiter-Gehens. Ewigkeit steht nicht in Beziehung zum Bios, sondern zur Person und ihrer Unwiderruflichkeit vor Gott. Das Bewußtsein des Nicht-vergehens wächst in dem Maße, als das Vergehen in Aufrichtigkeit angenommen wird. Die Hoffnung auf die Leben erweckende Macht Gottes vermag dem erlöschenden Leben noch Identität, Sinn und Zukunft zu geben. Sterbehilfe im umfassenden Sinn des Wortes müßte also dazu helfen, daß der Sterbende soweit wie möglich den Sinn seiner letzten Lebensphase zu entdecken vermag. Eine Lebensvollendung dieser Art entspricht in besonderer Weise der Würde des Menschen.

Auf dem Hintergrund eines so umfassend verstandenen Beistandes erscheinen auch die schwierigen Einzelentscheidungen in einer anderen Perspektive. Wir lassen den Fall, bei dem durch Schmerzbekämpfung eine gewisse Verkürzung als bloße Nebenwirkung in Kauf genommen wird, beiseite; er ist wohl auch juristisch als „unverbotenes Risiko“ gedeckt. Wir beschränken uns auf drei Fallgruppen:

• Der Patient selbst drängt auf den Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie. Aus einer tiefen menschlichen Solidarität eines umfassenden Beistandes mit dem Todkranken kann hier eine gemeinsame Erkenntnis wachsen, die kasuistisches Fragen übersteigt. Das biologische Leben ist der Güter höchstes nicht, höher steht die sittliche Existenz des Menschen. Rechtlich gesehen, liegt dabei der Entscheid ganz auf Seiten des Patienten.

• Der Sterbende kann selbst keinen Wunsch mehr äußern. Die ganze Verantwortung liegt beim Arzt. Er ist durch seine Berufsethik ohne Einschränkung der Erhaltung und Forderung des menschlichen Lebens verpflichtet. Insofern aber das Sterben als inneres Moment zum natürlichen Lebensprozeß gehört, fordert seine ganze Sorge nicht einen bedingungslosen Kampf zur Lebensverlängerung um jeden Preis. Der Arzt muß alles tun, was er kann, um einen Menschen zu heilen oder sein Leiden erträglicher zu machen, er muß aber nicht alles tun, was er kann, um den von einem Krankheitsprozeß unaufhaltsam vorgegebenen Tod hinauszuzögern. Das Leben steht uns nicht zur Verfügung, auch nicht, um dem Leiden und Sterben auszuweichen. Wir sind aber auch nicht gehalten, wo der Tod unwiderruflich die Hand auf einen Menschen gelegt hat, den erlösenden Prozeß durch künstliche Maßnahmen zu verzögern.

In diesem ethischen Grundsatz herrscht wohl eine breite Übereinstimmung. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Beurteilung der Maßnahmen im einzelnen Fall. So wichtig und hilfreich dabei für Ethik und Recht die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen im Grundsatz sein mag; das eigentliche Problem liegt in der Frage, wo

Unterlassung pflichtwidrig wird. Und genau dies ist kaum allgemein normativ zu regeln. Wir sind auf das regulative Prinzip der Zumutbar-keit verwiesen und dies kann nur unter Berücksichtigung s>ller Umstände geprüft werden. Eine gesetzliche Änderung wird also hier tatsächlich kaum weiterhelfen. Doch wäre zu prüfen, ob nicht die ärztlichen Standesorganisationen gewisse Kriterien und Entscheidungshilfen zu nennen vermöchten. • Es bleibt noch die Frage der Tötung auf ausdrückliches Verlangen. In letzter Zeit wird viel davon geredet.

Dieser sogenannte Gnadentod, eine Tötung zum Zweck der Befreiung von Not und Schmerz, wird von der christlichen Ethik einheitlich abgelehnt. Er widerspricht auch prinzipiell dem ärztlichen Ethos. Aber das scheint in der gegenwärtigen Diskussion nicht der entscheidende Punkt zu sein. Die Befürworter sehen sich mit ihrer Auffassung sogar in der Minderheit. Aber sie fordern Toleranz für ihre Überzeugung durch den Rechtsstaat. Damit verschiebt sich die Problematik wesentlich.

Das Unrecht der Vernichtung des Lebens als eines Individualrechts-gutes wird zwar durch den Willen des Betroffenen wesentlich verringert; die Menschenwürde ist aber nicht ein bloßes Individualrechtsgut. Darüber hinaus sind noch andere Gründe entscheidend. Der Wunsch kommt von gesunden Menschen, die entweder durch Erlebnisse geschockt oder durch ein irrationales Gefühl gegen künstliche Lebensverlängerung getrieben, den Wunsch äußern, daß man es bei ihnen einmal gnädig mache. Doch dieser Wunsch, auch wenn er notariell beglaubigt wäre, ist völlig atypisch für die tatsächliche Situation. Von Schwerstkranken hören die Ärzte nur extrem selten ein ausdrückliches Verlangen nach direkter Tötung. Wo aber ein Sterbender dem Arzt gegenüber das Verlangen äußert, eingeschläfert zu werden, müßte man sich zuerst fragen, ob man ihm alle menschliche Hilfe habe zuteil werden lassen. Die Ehrfurcht vor dem Leben und der Würde des Menschen müßte gerade diesen Wunsch als Aufforderung verstehen, •hm bei der geduldigen Aufarbeitung des Sterbens als der letzten Phase des Lebens zu helfen.

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