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Digital In Arbeit

Werte statt Statistiken

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Eine zukunftsorientierte Bildungspolitik darf sich nicht in bloßer Wissensvermittlung erschöpfen. Die Probleme von morgen verlangen vor allem mehr Kreativität.

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Eine zukunftsorientierte Bildungspolitik darf sich nicht in bloßer Wissensvermittlung erschöpfen. Die Probleme von morgen verlangen vor allem mehr Kreativität.

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Die Entwicklung des Bildungswesens in unserer Generation ist beherrscht durch die Ausrichtung auf fachliche, sachliche Aspekte der Berufe, durch die Schaffung neuer Qualifikationen zur Hebung und Sicherung der ökonomischen, sozialen und technischen Entwicklung.

Die Schule, für die gesellschaftliche Entwicklung in Pflicht genommen, war also für die Massengesellschaft zu gestalten und gesellschaftlich zweckmäßig zu orientieren. Ihre Abschlüsse eröffnen Berufschancen und teilen damit Lebens- und Einkommenschancen zu.

Vernachlässigt werden die Bildungsvorgänge außerhalb und nach der Schule: Medien, Unterhaltungsindustrie, Jugendgruppen; ferner die Arbeitsteilung zwischen Familie und Schule. Ju-gendgruppen und Familien scheinen heute weniger bildungsorientiert als früher zu sein; sie erwarten eine „totale“ Bildungsleistung von der Schule, die dafür sachlich und personell schlecht ausgerüstet ist.

Das Schulsystem reagierte auf die „Verwissenschaftlichung aller Praxis“ und folgte dem immer schnelleren „Umsatz des Wissens“ durch verstärkte Wissensvermittlung, einseitige Förderung der' kognitiven, intellektuellen Fähigkeiten.

Die Probleme der Werte und Motive, der Phantasie, der Kontexte und der Kreativität werden weitgehend in den Hintergrund gedrängt und in den Bildungsprozeß als Bildungsziel nicht mehr zentral einbezogen oder doch kaum gefördert und geübt.

„Schule“ ist der Arbeit und dem Beruf lebenszeitlich vorgelagert— die Spezialisierung der Berufswelt — bis zum Ende des Jahrhunderts werden wie seit seinem Beginn wieder mehr als die Hälfte der Berufe neu sein — zwingt zu fragen, welche Bedeutung die Schule als formaler Bildungsgang für die Welt der Arbeit haben wird oder soll.

Schule und Arbeit werden heute zunehmend getrennte Lebenskreise: die Berufe der Eltern werden für Kinder undurchschaubar; für Schüler wird die Schule „Arbeit“, Belastung, „Pflicht“; Schulgrößen und Studienplätze werden wie „Arbeitsplätze“ berechnet und „humanisiert“.

Aber die stets fruchtbare Spannung zwischen Schule und Praxis aufzugreifen, wird vermieden.

Die Jugend tritt ins „Leben“. Erkennt sie eine „verpfändete“ Zukunft durch die komplexen Planungen, langfristigen Entscheidungen und langfristigen Finanzierungsaktionen?

So fragen sich viele: Welche Gestaltung bleibt uns? Wir tragen Entscheidungen mit, die andere für uns, vor uns getroffen haben. Erfahrungen dieser Art schaffen wenig Anreize für Lernen und be-rufliches und gesellschaftliches Mitgestalten.

Die Uberbetonung des individuellen Lernens, dabei die Überbetonung der Bedürfnisse der jeweiligen Mehrheit — führt sie zur Vernachlässigung der kollektiven Lernmöglichkeiten? Behindert sie die Bewältigung der Demokratie- und Organisationskonflikte, der Konflikte zwischen Individuen und Institutionen, der verschiedenen Minderheitenprobleme?

Die Spannungen zwischen ur- baner und ländlicher Umwelt, vor allem in den Entwicklungsländern, zwischen den industrialisierten Ländern und den Entwicklungsländern sind Ausprägungen solcher Konflikte.

Gruppenprozesse werden erst langsam als Lernprozesse (in Ergänzung der individuellen Lernvorgänge) genützt. Gruppenleistungen werden kaum geübt, kaum gefordert. Berufsleistungen sind aber überwiegend Gruppenleistungen; ebenso sind es politische Gestaltungen im Mikrobereich der Institutionen, im Makrobereich der regionalen und nationalen Politik.

Ganze Gruppen der Bevölkerungen werden von Lernprozessen und Mitgestaltungsvorgängen ferngehalten: Minderheiten wurden und werden zwar oft vor Diskriminierungen geschützt, damit aber doch negativ ausgegrenzt oder assimiliert — statt ihr wertvolles Potential einzusetzen, positiv zu nützen, willkommen zu heißen.

Zu dieser Identitätsgefährdung tritt Autonomieverlust: Industrialisierung und Technologie haben wertvolle Kenntnisse und Erfahrungen verschüttet, vor allem in Entwicklungsländern; Selbsthilfemöglichkeiten und wichtige informelle Lernsituationen wurden beseitigt oder zerstört.

„Entwicklungshilfe galt bis in die jüngste Zeit als eine Frage des „Exportes“, zunächst von Gütern, dann von Werten und Systemen; auch Bildungssysteme wurden „exportiert“, „verkauft“, „verordnet“. Im Jahre 1979 hat die UN- Konferenz „Wissenschaft und Technik für die Entwicklung“ erstmals weltweit das Prinzip der „Partnerschaft“ betont und propagiert.

Wir gehen einer ungewissen Zukunft entgegen; die Frage, die zu stellen ist, heißt daher: Wie bereiten wir uns vor, die Ungewißheit der Zukunft zu ertragen und für die zukünftigen Probleme gerüstet zu sein?

Wir sollten von alternativen Entwicklungsmöglichkeiten her die (wünschenswerte, die abzulehnende) Zukunft reflektieren, unsere Phantasie einsetzen, Visionen und Werte statt Statistiken projizieren und extrapolieren!

Der Autor ist Generalsekretär des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung; sein Beitrag zitiert auszugsweise aus dem neuen Sammelband „Bildungspolitik für Österreich“, hrsg. von Josef Höchtl/Fritz Windhager, Muliplex Media Verlag, Wien.

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