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Chancengleichheit zwischen Output und Sozialbedarf

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Regierungserklärungen und Parteiprogramme in- und ausländischer Provenienz messen der Bildungspolitik die Aufgabe zu, einen wichtigen gesellschaftsgestaltenden Beitrag zu leisten. Diese ihr zugedachte Aufgabe liegt im Wesen der Politik. Diese ist als gestaltendes soziales Handeln zu verstehen, das sich auf Machterwerb und Machtgebrauch stützt. Ziel dieses Handelns ist es, im öffentlichen Bereich bestimmte Interessen von einzelnen und Personengruppen in bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Situationen durchzusetzen. Dies geschieht in der Regel im Kampf gegen den Willen und die Zielsetzungen anderer Personen und Personengruppen, bisweilen auch auf dem Wege von Vereinbarungen und Kompromissen. In seiner Bezogenheit auf Teilbereiche der Gesellschaft bezeichnet man dieses gestaltende Handeln als Wirtschafts-, Rechts-, Sozial-, Wehr-, Gesund-heits-, Kultur- und Wissenschaftspolitik. Die gestaltende Einflußnahme auf den gesamten Bereich der Bildung heißt Bildungspolitik.

Zur' Triebkraft einer so global zu verstehenden Bildungspolitik wird das zu Beginn der sechziger Jahre klar erkannte Prinzip des lebenslangen Lernens in Verbindung mit der Erkenntnis über den inneren Zusammenhang von Bildung und Wirtschaftswachstum. Bildung wird nun in Pflicht genommen für den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und allgemein menschlichen Fortschritt. Dieser erscheint zunächst nur gewährleistet durch ein sich gegenseitig bedingendes ausgewogenes Verhältnis von Bildungsexpansion und Wirtschaftswachstum. Das ist auch der Lehrsatz der OECD, den unser Land bereitwillig übernimmt und der eine weithin ökonomisch orientierte Bildungsdiskussion auslöst. Hiebei kommen bald gesamtgesellschaftliche Überlegungen mit ins Spiel, die in der Idee der „Bildungsgesellschaft“ als einer Substruktur der Gesamtgesellschaft ihren Niederschlag finden.

Ein Vergleich beider deckt nicht nur die Diskrepanzen auf, die zwischen den Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft und der tatsächlich bestehenden Bildungsgesellschaft bestehen, sondern er zeigt auch mit Klarheit auf, daß das, was Bildung meint, nicht ein für allemal feststeht, weil Bildung immer die Bildung ihrer Zeit ist. Sie unterliegt dem geschichtlichen Wandel, bedarf der Revision, und dies berührt daher zutiefst die Inhalts- und Zielfrage der Bildung. Demnach hat bildungspolitisches Handeln auf drei Ebenen seine Kompetenz wahrzunehmen und eine bildungsökonomische, eine organisatorisch-rechtliche und eine inhaltliche Aufgabe zu erfüllen.

Der ökonomischen Denkweise entsprechend, wird nun das Bildungssystem unter dem Aspekt von Produktion und Konsum betrachtet. Der von Wirtschaft und Gesellschaft geforderte Nachwuchs wird vom Bildungssystem „produziert“ und von vder Gesellschaft „konsumiert“. Die Sorge, zwischen „Output“ und „gesellschaftlichem Bedarf“ das Gleichgewicht herzustellen, wird ein Hauptanliegen der Bildungspolitik. War dieses Gleichgewicht zunächst infolge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung durch den Mangel an qualifiziertem Nachwuchs gestört, so wird es gegenwärtig bereits durch den Mangel an beruflichen Chancen in der Arbeitswelt beeinflußt, was junge Menschen immer mehr in eine Sackgasse führt Die Forderung nach „Ausschöpfung aller Begabungsreserven“, die Hand in Hand mit dem sehr positiv zu bewertenden Ausbau des Bildungswesens geht, scheint in eine Krise zu geraten.

Es ist daher das dringende Gebot einer verantwortungsbewußten Bildungspolitik, nichts unversucht zu lassen, um schon auf der bildungsökonomischen Ebene das Zusammenspiel von Bildungswesen und Gesellschaft :möglichst störungsfrei zu.^fe ien. Sonst könnte nur zu leicht auch der Gedanke des Rechtes auf Bildung zu kurz kommen. Das Recht auf Bildung, das sich auf das bildungspolitisch relevante Rechtsgut der Grundrechte unseres Gemeinwesens stützt, zutiefst aber in der christlichen Auffassung wurzelt, wonach jedem Menschen das Recht auf Selbstverwirklichung zusteht, kann nur dann realisiert werden, wenn man sich um Gleichheit der Bildungschancen bemüht.

Keinesfalls kann aber diese Gleichheit durch eine Nivellierung der Anforderungen erreicht werden. Vielmehr ist die Forderung nach Chancengleichheit und -gerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt zu sehen, daß individuell, sozial und regional bedingte Benachteiligungen, soweit dies möglich, aufgehoben werden sollen.

Damit ist die Problemlage charakterisiert, die seit der Konstituierung der Parlamentarischen Schulreformkommission 1969 die bildungspolitische Diskussion bestimmt. Die bildungspolitischen Forderungen nach Demokratisierung, Differenzierung und Individualisierung der Bildung werden zu heute kaum mehr umstrittenen Standardforderungen in allen bildungspolitischen Lagern. Strittig hingegen ist die Frage, durch welche Maßnahmen, in welchem Ausmaß, in welcher Zeit, mit welchen Kosten mehr Chancengleichheit hergestellt werden kann. Hierbei zeigt sich, daß der Begriff Chancengleichheit nicht wertfrei ist, sondern je nach weltanschaulich-anthropologischem und ideologischgesellschaftlichem Bezugspunkt unterschiedliche Interpretationen erfährt, die in der Auseinandersetzung über die organisatorisch-rechtliche Struktur des Bilduhgswesens deutlich zum Tragen kommen. Da aber .diese Strukturen einen wichtigen, die*- MöglihTcej ndi vhmnnwi Selbstverwirklichung bedingenden Faktor darstellen, stehen alle getroffenen und zu treffenden Maßnahmen auf der organisatorischrechtlichen Ebene unter besonderer bildungspolitischer Verantwortung.

Um aber den menschlichen Aspekt nicht aus dem Auge zu verlieren, hat sich letztlich die Bildungspolitik in besonderer Weise mit der Ziel-und Inhaltsfrage der Bildung einzulassen. Gewiß ist es Recht und auch Pflicht des Bildungspolitikers, dde Wertgesichtspunkte der von ihm vertretenengesellschaftlichen

Gruppe in Bildung und Erziehung einzubringen. Ebenso gewiß ist aber auch die Pflicht des Pädagogen, dann einen Vorstoß ins Politische zu machen, wenn das Recht des Heranwachsenden auf Selbstverwirklichung gefährdet erscheint. Dies wäre etwa der Fall, wenn versucht würde, die Forderung nach Abschaf-sung des Religionsunterrichtes durchzusetzen. Dadurch würde dem Menschen ein sehr wichtiger Wirklichkeitsbereich für eine kritische Auseinandersetzung mit religiössittlich-weltanschaulichen Inhalten vorenthalten, wodurch seine Selbst-vefwirklichung und Lebenszielfin-dung großen Schaden nähme. Der gemeinsame Bezugspunkt von Bildungspolitik und Pädagogik ist somit das pädagogische Gewissen. Von ihm wird es entscheidend abhängen, ob unsere Gesellschaft menschlich bleiben wird.

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