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Wirklich ein „Prälat ohne Milde“?

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Als am 19. Juli 1876 einem kleinbürgerlichen Ehepaar in Wien ein Sohn geboren wurde, der zu einem der hervorragendsten Staatsmänner der Republik Osterreich werden sollte, war Österreich noch für lange Zeit Monarchie. Und im Jahre 1918 wurde Ignaz Seipel, 42 Jahre alt, noch Minister in der letzten kaiserlichen Regierung der cisleithanischen Reichshälfte der Doppelmonarchie. Vier Jahre später wurde Seipel Bundeskanzler der Republik Österreich.

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Als am 19. Juli 1876 einem kleinbürgerlichen Ehepaar in Wien ein Sohn geboren wurde, der zu einem der hervorragendsten Staatsmänner der Republik Osterreich werden sollte, war Österreich noch für lange Zeit Monarchie. Und im Jahre 1918 wurde Ignaz Seipel, 42 Jahre alt, noch Minister in der letzten kaiserlichen Regierung der cisleithanischen Reichshälfte der Doppelmonarchie. Vier Jahre später wurde Seipel Bundeskanzler der Republik Österreich.

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Er scheute sich nicht, in seiner ersten Regierungserklärung am 31. Mai 1922 zu bekennen, daß er „zu den überzeugtesten Anhängern des alten, großen, vielstämmigen Österreich“ gehört habe; aber wenn auch, so sagte er, der alte Staat zu bestehen aufgehört habe, so lebe doch noch das österreichische Volk, für das ein neues Dach gezimmert werden müsse; um an der Behebung der Not des aus den alten staatlichen und wirtschaftlichen Verbindungen herausgerissenen Volkes mitzuwirken, habe er dem Drängen, als Führer der stärksten Partei das Kanzleramt zu übernehmen, nachgegeben, und sein Bekenntnis zur Republik habe daher „den Sinn eines Bekenntnisses zur Arbeit für das Volk in der Republik“.

Die Arbeit der Regierung Seipel mußte also in erster Linie darauf gerichtet sein, die damals im Lande herrschende wirtschaftliche Not zu beheben,.nur so konnten die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit Österreichs gewahrt werden, an dessen Lebensfähigkeit nur wenige glaubten. Der durch Inflation (die Krone sank auf ein Vierzehntausendstel ihres Wertes) drohende Sturz der Währung ins Bodenlose mußte aufgehalten, die Stabilisierung herbeigeführt werden, was mit Hilfe einer vom Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen, vermittelten Auslandsanleihe gelang. Damit war die Grundlage für geordnete Staatsfinanzen und den wirtschaftlichen Aufbau geschaffen. Mit Recht hat die Zweite Republik im Jahre 1975 an die vor 50 Jahren erfolgte Einführung der Schillingwährung durch die Ausgabe einer 100-Schilling-Silbermünze erinnert, auf der die einen Sämann symbolisierende Figur bildhaft andeutet, daß uns heute noch die Ernte aus der damaligen Aussaat zugute kommt.

Daß Seipel, dem Priester - und Professor für Moraltheologie, wirtschaftliche Probleme nicht fremd waren, zeigte schon seine Habilitationsschrift vom Jahre 1908. Sie behandelte das Thema: „Die wirt-schafts-ethischen Lehren der Kirchenväter.“ 1899 zum Priester geweiht, 1903 zum Doktor der Theologie promoviert, hatte Seipel eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen, ohne dabei seinen Priesterberuf zu vernachlässigen. 1909 wurde er Universitätsprofessor. in Salzburg, 1917 in Wien. Dadurch, daß sich seine wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit auch staatsrechtlichen Problemen zuwandte, war er in die Politik gekommen. Erwähnenswert ist, daß er auch der, Autor des Berichtes war, welcher vom Verfassungsausschuß der Konstituierenden Nationalversammlung im Herbst 1920 erstattet und auf Grund dessen unsere Bundesverfassung beschlossen wurde.

Das 1922 begonnene Aufbauwerk in Österreich, das in der Welt mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde und bereits mit dem Namen des Bundeskanzlers verknüpft war, wäre fast durch einen Mordanschlag auf Seipel gefährdet worden, bei dem ihn ein wahrscheinlich durchgegnerische Propaganda irregeleiteter Psychopath am 1. Juni 1924 auf dem Wiener Südbahnhof mit zwei Pistolenschüssen schwer verwundete. Die tiefe Empörung und die warme Anteilnahme, die im In- und Ausland durch die Nachricht vom Attentat ausgelöst wurden, gaben Zeugnis von der großen Wertschätzung, der sich Seipel erfreuen konn-' te. Die Kunst der Ärzte und seine

unbeugsame Willenskraft ermöglichten ihm nach bangen Wochen die Wiederaufnahme seiner Amtstätigkeit, aber die körperliche Schwächung hat sicherlich zu seinem frühzeitigen Tod beigetragen.

Wenn auch Seipel im November 1924 zunächst aus der Regierung ausschied, arbeitete er als Parteiobmann und Parlamentarier für Österreich unentwegt weiter. Besonders seine Vorträge, die er, von in- und ausländischen Organisationen dazu eingeladen, in Europa und auch in Ubersee hielt, erhöhten nicht nur sein persönliches, sondern auch Österreichs Ansehen in der Welt.

Unermüdlich blieb Seipel weiterhin als Priester tätig. Jeder Aufforderung zu kirchlichen Funktionen leistete er gerne Folge.

Seipels Außen- und Innenpolitik waren immer auf die Erhaltung des Friedens ausgerichtet. Dies zeigte sich schon bei seinem Eintritt in die letzte kaiserliche Regierung (Lammasch), die den Völkern der Monarchie den von Kaiser Karl schon längst mit aller Kraft gesuchten Frieden bringen wollte, dann in dem stetigen Eintreten Seipels für die Idee des Völkerbundes und nicht zuletzt in seiner Förderung der Bestrebungen zur Einigung Europas. So gehörte er zusammen mit Karl Renner, dem späteren Bundespräsidenten, als die Paneuropa-Bewegung von Richard Coudenhove-Kalergi gegründet wurde, dem Präsidium der österreichischen Paneuropa-Union an.

Am 26. Oktober 1926 mußte Seipel wieder das Kanzleramt übernehmen, das er dann noch zweieinhalb Jahre führte. In diese Zeit fiel ein trauriges Ereignis, das mit dem Krebsübel der Ersten Republik, der Existenz bewaffneter Parteiformätionen (Heimatschutz, Republikanischer Schutzbund, Sturmscharen, Frontkämpfer) zusammenhing. Im Verlauf von Demonstrationen gegen das Urteil eines Wiener Geschworenengerichtes, das Mitglieder der „Frontkämpfervereinigung“ von der Anklage wegen Tötung von Menschen bei einem Zusammenstoß mit politischen Gegnern im burgenländischen Ort Schattendorf freigesprochen hatte, kam es zu Ausschreitungen, bei denen der Justizpalast in Brand gesteckt wurde und Kämpfe mit der Polizei aufflammten, die zahlreiche Todesopfer forderten. Im Parlament lehnte der Kanzler das Ansinnen, von vornherein auf jede strafrechtliche Verfolgung der Gewalttäter zu verzichten, namens der Regierung ab. Von der Opposition wurde daraufhin außerhalb des Parlaments unter Ausnützung einer in der Regierungserklärung gebrauchten Redewendung ' das böse Wort vom „Prälaten ohne Milde“ geprägt. (Seipel war schon 1921 von der Kirche mit dem Titel Prälat ausgezeichnet worden.) Diese unverdiente und kränkende Kritik mußte Seipel um so tiefer treffen, als sie auch zum Anlaß einer für ihn als Priester besonders schmerzlichen Kirchenaustrittsbewegung wurde.

Als Seipel am 4. Mai 1929 vom Kanzleramt schied, fühlte er offenbar schon, daß seine Kräfte immer mehr abnahmen. Nichtsdestoweniger wirkte er in den nächsten drei Jahren bis zu seinem Tod noch an wichtigen politischen Entscheidungen mit. Es sei die unter.dem Bundeskanzler Johannes Schober zustandegekommene Verfassungsreform des Jahres 1929 hervorgehoben, bei welcher auch der Vorschlag Seipels verwirklicht wurde, daß der Bundes-

Präsident, der vorher fast nur Repräsentationsaufgaben zu erfüllen hatte, nicht mehr durch die Bundesversammlung, sondern durch direkte Volkswahl zu berufen und mit

erweiterten Rechten auszustatten sei. Dem Bundespräsidenen, als dem Haupt der staatlichen Vollziehung, sollte eine gleichrangige Stellung mit dem Parlament, als dem Organ

der Bundesgesetzgebung, eingeräumt werden. Im Herbst 1930 übernahm Seipel notgedrungen für zwei Monate das Amt eines Außenministers in einem Kabinett, das nur Neuwahlen durchführte. Und noch ein Jahr vor seinem Tod sollte er auf Wunsch des damaligen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas eine Konzentrationsregierung bilden, was sich allerdings als unmöglich erwies.

Karl Renner, Schlüsselfigur der Ersten und der Zweiten Republik und dritter Bundespräsident Österreichs, war zur Zeit, als Seipel starb • (2. August 1932), Präsident des Nationalrates. Er leitete den Nachruf für ihn im Parlament mit dem Satz ein: „Die Volksvertretung der Republik beklagt heute den Heimgang eines Mitgliedes, dessen Genius beherrschend über das erste Jahrzehnt ihres Bestandes gewaltet hat.“

Dann schilderte Renner den Werdegang und das Wirken Seipels, dessen Persönlichkeit er zusammenfassend so würdigte: „Von tiefem wissenschaftlichem Ernste durchdrungen, von den stärksten ethischen Motiven angetrieben, gibt er sich, einmal in die Volksvertretung entsendet, der äußeren und inneren Berufung zum Staatsmanne völlig hin, stellt sein ganzes Leben ausschließlich in den Dienst der Sache, die er nach seiner Weltanschauung und nach seiner wissenschaftlichen Überzeugung als richtig erkannt hat, und er dient ihr mit verzehrender Hingabe bis zum letzten Atemzuge! So ist er das geworden, als was ihn Freund und Feind bewundert — der vorbildliche Staatsmann, der vorbildliche Parteiführer!“

Renner sprach noch von der tiefen Tragik des Schicksals, das der Wirksamkeit des Staatsmannes Seipel ein so frühes Ende gesetzt habe, und davon, daß Seipels Tod einen unersetzlichen Verlust für seine Partei, das öffentliche Leben, Volksvertretung und Staat bedeute. Der Nachruf wandte sich schließlich der Zukunft mit den fast prophetisch klingenden Worten zu: „Sein Name aber gehört schon heute der Geschichte der Republik an und wird in ihr fortleben durch alle Zeiten.“

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