"Brauchen Marshall-Plan für Arabien“

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Der Arabist und Politikwissenschafter Thomas Demmelhuber über die Revolte in der arabischen Welt und was Europa aus den Ereignissen lernen sollte.

Thomas Demmelhuber ist Professor für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Universität Erlangen und in Berkeley/USA.

Die Furche: Sie haben sich intensiv mit den Strategien der arabischen Regime beschäftigt. Glauben Sie, in den Regierungspalästen von Riad, Damaskus und Amman geht derzeit die Angst um?

Thomas Demmelhuber: Sie werden mit Sicherheit die Ereignisse genauestens verfolgen und daraus lernen. Nach Tunesien und Ägypten können wir auf jeden Fall sagen, dass es regionale Auswirkungen gibt. Es wäre aber zu einfach gedacht, wenn wir daraus nun eine automatische Kette von Umstürzen ableiten. Die Regime in den rohstoffreichen Staaten in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel sind wesentlich weniger gefährdet als Tunesien und Ägypten. Sie haben durch Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen vielfältigere Möglichkeiten, sich politische Ruhe und Herrschaftslegitimation zu erkaufen.

Die Furche: Wer wäre demnach am ehesten gefährdet?

Demmelhuber: Der Jemen und Bahrain stehen zum Beispiel beide vor großen Herausforderungen. Der Jemen als ärmster Staat der Region und zerfallender Staat, in dem die Regierung im Norden und Süden massive Probleme hat, das staatliche Gewaltmonopol einzufordern, und in der Mitte die Präsenz von al-Qaida Konflikte schürt. Bahrain, weil dort eine sunnitische Herrschaftsschicht eine schiitische Mehrheit von 60 Prozent sozioökonomisch benachteiligt und politisch diskriminiert.

Die Furche: Aus Ihren Worten zu schließen waren das nicht so sehr Revolutionen für die Freiheit, sondern für mehr Wohlstand. Gilt da Brechts Spruch: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral?

Demmelhuber: Es sind tatsächlich zuvorderst sozioökonomische Forderungen, die erst mit einem politischen Forderungskatalog verbunden wurden. Diese Koppelung machte die Bewegung erst zu dem Massenphänomen. Arbeitsplätze für Jungakademiker und höhere Löhne fusionierten mit Forderungen nach Öffnung der verkrusteten autoritären Strukturen.

Die Furche: Das wäre nun vielleicht die Rolle der westlichen Industriestaaten.

Demmelhuber: Ich würde nachdrücklich dafür eintreten, dass sich Europa mit seiner Demokratisierungsagenda vorerst zurückhalten sollte, sie haben sich ja auch in den letzten Jahrzehnten durch ihre Zusammenarbeit mit Diktatoren unglaubwürdig gemacht und haben durch Unterstützung politischer Reformen kaum etwas erreicht. Europa sollte das tun, was es wirklich kann: wirtschaftspolitische Anreize setzen. Dazu gehört die vollständige Liberalisierung des Handels, besonders im Agrarbereich, wo diese Länder wettbewerbsfähig sind. Auch sollte Europa umfassende Marshallplan-ähnliche Wirtschaftshilfe anbieten, um die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern noch mehr zu unterstützen.

Die Furche: Das müsste über Auslandsinvestitionen laufen, nicht über Lebensmittellieferungen.

Demmelhuber: Genau. Es geht zuvorderst um die Förderung der Exportwirtschaft in den Ländern wie Ägypten und Tunesien.

Die Furche: Man kann über beide Revolutionen vieles behaupten, nur das eine nicht: dass sie von Islamisten gesteuert worden wären.

Demmelhuber: Zutreffend ist, dass beide Gesellschaften als Staatsbürger und nicht als Moslems auf die Straße gingen. Die Islamisten wurden von der Dynamik der Protestbewegung sehr überrascht.

Die Furche: Kommt die Stunde der Muslimbruderschaft noch?

Demmelhuber: Klar ist, dass die Muslimbruderschaft die am besten organisierte Kraft innerhalb der ägyptischen Opposition ist. Ich würde aber die Bruderschaft im Spektrum des Politischen Islam nicht mehr als radikal bezeichnen. Die Bruderschaft ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Furche: Trotz der Anschläge auf Ägypten-Touristen in den 90er-Jahren und 2006, die von Mubarak den Muslimbrüdern zugeschrieben wurden?

Demmelhuber: Diese verzerrte Meinung in Europa verdanken wir Mubaraks Kommunikationsleistung, indem er sich als einzig verlässlichen Partner darstellte und alle islamistischen Akteure als radikal und gewalttätig darstellte. Die Muslimbruderschaft hat im Falle Ägyptens aber längst der Gewalt abgeschworen. Ich glaube auch nicht, dass die Bruderschaft bei freien Wahlen eine absolute Mehrheit bekommen würde. Ich sehe sie bei 30 bis 40 Prozent der Stimmen. Den von vielen Seiten befürchteten Gottesstaat am Nil wird es nicht geben.

Die Furche: Überall ist die Rede von den neuen Medien, die die Revolutionen unwiderstehlich gemacht hätten. Im Iran wurde die Revolte 2009 allerdings blutig niedergeschlagen.

Demmelhuber: Wir haben im 21. Jahrhundert eine sehr kritische Weltöffentlichkeit, was sich besonders bei Ländern massiv auswirkt, die stark von Außenhandel und Transferzahlungen (in Ägypten bspw. Militärhilfe) abhängig sind. Für ein Land wie Ägypten wäre deshalb eine gewaltsame Niederschlagung einfach nicht möglich gewesen. Im Iran hatten wir 2009 eine etwas andere Situation, in welcher das Regime die kritische Distanz zur Außenwelt (bspw. Feindschaft zur USA) als Legitimationsquelle nach innen benutzte.

Die Furche: Europa sieht sich einem stärkeren Flüchtlingsstrom ausgesetzt. Wie sollte man darauf reagieren?

Demmelhuber: Kurzfristig muss man in Kooperation mit den betroffenen Staaten wie Tunesien eine vollständige Wiederaufnahme des Grenzschutzes erreichen. Mittelfristig müsste man mehr Möglichkeiten für zeitlich begrenzte Arbeitsmigration schaffen. Auch eine Debatte über Sinn und Unsinn europäischer Visapolitik wäre nötig. Langfristig muss es das Ziel sein, insbesondere die Staaten Nordafrikas in ihrer ökonomischen Entwicklungen massiv zu unterstützen, sodass die Anreize für Migration geringer werden.

Die Furche: Ist es nicht auffällig, dass eigentlich eine ganz andere Entwicklung eingetreten ist, als seit 9/11 erwartet wurde? Wir erleben bürgerliche Revolutionen statt dem "Kampf der Kulturen“.

Demmelhuber: Das würde ich unterschreiben. Einige Vertreter auch meines Faches sind dieser These einfach auf den Leim gegangen. Nicht der Politische Islam, sondern die sozioökonomische Perspektivlosigkeit in diesen Ländern und das gewaltige Frustrationspotenzial junger Menschen bilden den Nährboden für diese Protestbewegung.

* Das Gespräch führte Oliver Tanzer

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