Die großen Feinde der Freiheit

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Die revolutionären Bewegungen in Ägypten und Tunesien haben Despoten zur Flucht gezwungen. Doch sie stehen nun vor schweren Aufgaben. Wie kann eine bürokratisch gelenkte Wirtschaft modernisiert und wie soll das Patriarchat demokratisiert werden?

Die glückliche, demokratische Euphorie ist zum Leidwesen der Völker nur allzu oft ein äußerst flüchtiger Zustand. Wer sich davon überzeugen will, kann das am Beispiel Muammar al-Gaddafis tun. 1975 war der Beduinensohn noch Revolutionshero und nicht ein von der Staatengemeinschaft verfolgter blutiger Tyrann Libyens. Gaddafi träumte von einer gerechten islamischen Gesellschaft unter der leitenden Hand direkter Demokratie. Das bald anbrechende "Zeitalter der Massen“ versprach er den Libyern: "Unwissenheit wird es dann nicht mehr geben, wenn alles so dargestellt wird, wie es tatsächlich ist und das Wissen darüber jedem Menschen in einer Weise zur Verfügung steht, die zu ihm passt.“ 1993, so zeigt der Übersetzer Günther Orth auf, hatte sich die Einstellung des Diktators zur Gänze gewandelt. Er schrieb sich seine Angst vor dem Volk von der Seele: "Die Tyrannei der Massen ist die brutalste Art von Tyrannei, denn wer kann sich allein gegen den reißenden Strom, gegen die blinde, umfassende Macht stellen? Warum raubt ihr mir meine Ruhe? Ja, ihr nehmt mir sogar die Möglichkeit durch eure Straßen zu gehen!“

Wie enden die Revolutionen?

Besteht die Gefahr, dass die beiden heute erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten ebenso enden? Dass sich also der Traum von der menschenwürdigen Gesellschaft im Dickicht von menschenfeindlichen Traditionen, dem Widerstand machtbewusster Cliquen und weitgespannter Korruption verfängt und die Revolutionäre die Potentaten von morgen sind?

Arabische Soziologen und Philosophen haben unter Patronanz der UNO im Jahr 2009 einen mehrere hundert Seiten umfassenden Bericht über die gesellschaftlichen Entwicklungen und Probleme der arabischen Länder erstellt. Das Ergebnis ist äußerst ernüchternd. Geht man danach, stehen sowohl die tunesische als auch die ägyptische Gesellschaft auch nach ihren erfolgreichen Aufbegehren vor einer gewaltigen Herausforderung: ökonomisch, politisch und auch religiös.

Zunächst geht es da um Einflussfaktoren, welche von der Politik abgekoppelt verlaufen: Der erste unter ihnen ist das rasante Bevölkerungswachstum. In den kommenden Jahren wird die Bevölkerung laut "Arab Human Development Report“ in den arabischen Staaten doppelt so schnell wachsen, wie der Durchschnitt der Weltbevölkerung - pro Jahr um 1,9 Prozent. Von 1980 bis 2007 wuchs die Bevölkerung von 172 Millionen auf 331 Millionen Menschen an, bis 2015 werrden es nach UN-Berechnungen 385 Millionen sein. besonders die städtischen Agglomerationen wachsen überproportional: Wohnten 1970 noch 38 Prozent der arabischen Bevölkerung in Städten, werden es 2020 vermutlich schon 60 Prozent sein.

Andere Entwicklungen halten also mit der Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt. Das gilt zunächst für die natürlichen Ressourcen, sprich landwirtschaftlich nutzbarer Boden. Ein Fünftel der Landfläche arabischer Staaten, 2,87 Millionen Quadratkilometer, sind demnach gefährdet, zur ariden Trockenzone zu degradieren.

Schrumpfende Ressourcen und steigende Rohstoffpreise verstärken den Existenzdruck der jungen Stadtbevölkerung von der nach dem Bericht durchschnittlich 30 Prozent offiziell arbeitslos sind (40 Prozent der erwerbstätigen sind demnach Schwarzarbeiter). Die Schaffung von Arbeitsplätzen hat jedenfalls nicht mit dem Bevölkerungswachstum mitgehalten. Davon ist vor allem ein wachsender Teil gut ausgebildeter junger Schulabgänger betroffen, die kein Betätigungsfeld vorfinden. Im Schnitt sind 30 Prozent der Jugendlichen in den arabischen Länder arbeitslos. Bei einem jugendlichen Bevölkerungsanteil von über 40 Prozent führt gerade diese Chancenlosigkeit zu einem virulenten Generationenkonflikt, der auch durch Revolutionen nicht in Jahresfrist beseitigt werden kann.

Fehlender Wettbewerb

Die ökonomische Schwäche liegt aber nicht nur an mangelnden Investitionen von Unternehmen aus Industrienationen im arabischen Raum. Das System krankt massiv an fehlender Wettbewerbsfähigkeit.: "Derzeit sind Privatunternehmer nicht mehr als die Juniorpartner der staatlichen Bürokratie“, heißt es in dem Bericht. Arabische Staaten hätten praktisch die alleinige Kontrolle über das wirtschaftliche Leben. Wo der Staat Konkurrenz und Wettbewerb weitgehend beeinflussen kann, sind der Korruption Tür und Tor geöffnet. Erfolg führt beinahe ausschließlich über die Freundschaft zur herrschenden Nomenklatur. Die Folge: "Arabische Unternehmer sind keine treibenden Reformkräfte im politischen Prozess.“

Wären diese Strukturen mit einer gewissen Frist lösbar, so erscheinen die paternalistischen Strukturen der arabischen Gesellschaften allerdings fest gefügt und kaum auflösbar - mit bedeutenden Auswirkungen auf die demokratischen Umwälzungen. Denn es bedeutet in seinen rigiden Erscheinungsformen wahabitischer Prägung eine scharfe legale und soziale Diskriminierung von rund der Hälfte der Bevölkerung. "Arabische Frauen sind in verschiedenen Lebensphasen der Gewalt ausgesetzt“, heißt es in dem Bericht. Schläge, Vergewaltigungen, würden durch die Gerichte zu wenig geahndet. Physische Gewalt sei ein Tabu in den männlich fixierten Gesellschaften (siehe Grafik): "Viel Gewalt passiert innerhalb der Familie. Die Behörden, Polizei aber auch die Öffentlichkeit schrecken davor zurück, in die Privatsphäre einzudringen.“ Für umso entscheidender halten die Soziologen und Wissenschafter der UNO deshalb in der Verfassung garantierte persönliche Freiheiten. Doch gerade das Beispiel Ägypten zeigt, dass es bis dahin ein sehr steiniger Weg sein könnte. Das Ja zu raschen Neuwahlen vom Wochenende haben jene Kräfte genutzt, die bereits gut organisiert sind und die für eine dem traditionellen Islam verpflichtete Gesellschaftsordnung steht: die Muslimbrüder.

Demokratie ohne Frauenrecht?

Die ägyptische Politikwissenschafterin Hoda Salah bringt das Dilemma auf den Punkt: "Ohne Gleichbereichtigung der Frauen gibt es keine Demokratie.“ Die revolutionären Reformer in den arabischen Ländern stehen so vor einer Herkulesaufgabe. Denn nicht nur auf ihren eigenen Reformwillen kommt es an.

Und wieder ist der fortschrittliche Revolutionär der 70er Jahre, Muammar Gaddafi, ein abschreckendes Beispiel. Über die Rolle der Frau schreibt er, dass die Erziehung der Kinder ihr Lebensmittelpunkt sein müsse. Sie seien "genau wie Blumen, die dazu geschaffen sind, mit Pollen zu bestäubt werden“.

Genitalverstümmelung

Umstrittene Daten

Der "Arab Human Development Report“ hat 2009 eine Schätzung zur Genitalverstümmelung veröffentlicht, die die Wissenschafter von der Weltgesundheitsorganisation WHO bezogen haben. Vor allem unter ägyptischen Experten sorgte das Ergebnis, ägyptische Frauen seien zu mehr als 95 Prozent betroffen, für heftige Diskussionen. Laut Bericht demonstrieren die Zahlen, wie tief die Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft verankert ist. (tan)

Gewalt

Männliche Übergriffe

Die UN-Experten weisen in dem Bericht darauf hin, dass sich Gewalt gegen Frauen nicht auf moslemische Länder beschränke, dass aber die patriarchalen Strukturen in den arabischen Staaten die regelmäßigen Übergriffe fördern. Demnach werden die Hälfte der verheirateten Frauen im Jemen regelmäßig geschlagen, in Ägypten sind es immerhin noch 35 Prozent - obwohl dies auch unter dem Mubarakgregime verboten war. (tan)

Flüchtlinge

Die Folgen der Instabilität

Die politische Instabilität führt in vielen arabischen und afrikanischen Ländern Flüchtlingsbewegungen. Die im Landesinneren Vertriebenen sind besonders verwundbar gegen Übergriffe, vor allem Frauen und Kinder werden zu Opfern von Arbeitssklaverei und Prostitution gemacht. Arabische Staaten werden im "Development Report“ auch als bevorzugte Zielländer für osteuropäische Mädchenhändlerringe genannt. (tan)

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