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Die Bewegungen in der islamitischen Welt

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Laut und mit zunehmender Stärke meldet die islamitische Welt ihre Geltungsansprüche an. In Indien, in den arabischen Staaten und Ägypten und Nordafrika — überall erheben sich ihre Stimmen, selbstbewußt, fordernd und drohend, wo hartei Widerstand sich entgegenstellt. Ein Symptom der gewaltigen, vom Geistigen her kommenden großen Veränderungen, die auf diesem Planeten im Gange sind und noch größere Neugestaltungen ankündigen. Über treibende und ideenhafte Kräfte, die hier am Werke sind, sollen die nachstehenden Ausführungen orientieren. Die Furche

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Laut und mit zunehmender Stärke meldet die islamitische Welt ihre Geltungsansprüche an. In Indien, in den arabischen Staaten und Ägypten und Nordafrika — überall erheben sich ihre Stimmen, selbstbewußt, fordernd und drohend, wo hartei Widerstand sich entgegenstellt. Ein Symptom der gewaltigen, vom Geistigen her kommenden großen Veränderungen, die auf diesem Planeten im Gange sind und noch größere Neugestaltungen ankündigen. Über treibende und ideenhafte Kräfte, die hier am Werke sind, sollen die nachstehenden Ausführungen orientieren. Die Furche

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Anders als das Christentum im Abendland stellt der Islam auf weiten Gebieten seiner Ausdehnung eine geschlossene Kulturschichte dar, die von keinerlei anderen, wirklich in die Tiefe wirksamen Lagerungen neueren Ursprungs durchbrochen ist. Dies verleiht dem islamitischen Lebensgefühl etwas Ungebrochenes, eine Ganzheit der Weltanschauung, wie sie dem christlichen Mittelalter eigen war. Das Bildungsideal wenigstens des arabischen Orients ist, wenn auch nicht mehr einseitig, noch immer ein religiöses, noch nicht verkümmert durch materielle Kultur und Technik. Im Gegenteil muß das schnelle Anpassungsvermögen und die Fruchtbarkeit, mit der die arabischen Völker auf das Eindringen der europäischen Zivilisation reagiert haben, erstaunlich wirken.

Das Fehlschlagen des Panislamismus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg hatte vielfach den Eindruck zurückgelassen, daß der Islam sich überlebt habe, seine Kraft gebrochen sei. Die Verwestlichung vieler äußerer Formen und die strenge religiöse Zurückhaltung der Orientalen gegenüber nicht-moslimischen Fremden mögen geholfen haben, derartige Anschauungen gangbar zu machen. Haben die politische Kraft, die der Islam in Indien entwickelt oder sein ständiges weiteres Vordringen in Afrika, wo er gegenüber der christlichen Mission bei den Primitiven seine Macht behauptete und sogar vergrößerte, die Unrichtigkeit jener Vorstellungen deutlich aufgezeigt, so ist ferner noch eine innere, jungislamische Strömung im weiteren Wachsen begriffen, deren Auftreten sich weniger aus dem Einfluß islamischer Würdenträger her erklärt, als vielmehr in der Struktur und Geistigkeit der islamischen Kultur begründet liegt.

Welcher Art sind nun die treibenden Kräfte? Die wichtigste der für den arabischen Islam interessierten Richtungen ist die Bewegung der Wahhabiten, die ihren Ursprung in einer puritanischen Bewegung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte und der eine politische Wiedervereinigung der inselarabischen Stämme, die erste seit Mohammed, gelang. Als Welle religiöser Erneuerung fand sie damals Widerhall bis in den fernen West- und Zentralsudan wie nach Indien und Insulinde; politisch konnte das Osmanische Reich sie in Arabien selbst erst nach Jahrzehnten einigermaßen niederringen. Die staatenbildende Kraft, die von ihr ausging, wirkte fort. Unter Ibn Saud erwuchsen die Wahhabiten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einer der mächtigsten Triebkräfte der nationalarabischen Bewegung. Ihre innere Dynamik erhellt sich aus den sozialen Umwälzungen, die mit ihr im Inneren Arabiens begonnen haben. Hier ist insbesondere die Gründung der „Ichwanat“ zu nennen, bruderschaftlicher Kolonien, mit deren Errichtung Ibn Saud das zersplitterte Stämmesystem Arabiens zu überwinden hofft.

Der Islam war bereits in seinen Anfängen durch die Idee der Austreibung aller Andersgläubigen eine nationale Bewegung, eine Tatsache, die im Arabischen sprachlich durch den Zusammenfall der Begriffe Nation und Kulturgemeinschaft gekennzeichnet ist. Wenn auch infolge der schnellen und weiten Ausbreitung des Kalifen-Reiches den Arabern das Primat unter den islamischen Nationen bald verloren ging, haben sie doch nie aufgehört, den Islam als ihre ureigenste Sache zu betrachten. Der Besitz der heiligen Stätten und das Gewicht des Arabischen als sakraler Sprache der Gebildeten hat dem Arabertum indes stets bedeutenden Einfluß vorbehalten. So mag es zwar türkische, persische, indische oder afrikanische Formen des Islams geben, aber arabische Kultur überhaupt und Islam müssen nahezu als identisch bezeichnet werden.

Die panislamische Bewegung, die zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts noch einmal auf eine Einigung der muslimischen Völker gegen das Vordringen der europäischen Mächte abzielte, erreichte ihr Ziel nicht. Zwar ging mit dem Bau der Hedschas-Bahn noch einmal eine Woge religiöser Begeisterung über den Orient, ebbte aber verhältnismäßig schnell wieder ab. Der Mahdi-Auf-stand im Sudan und der Krieg der Senussi gegen die Italiener in Lybien waren die letzten Regungen der altkonservativen Glaubensbewegung. Der Versuch, zu Beginn des ersten Weltkrieges den heiligen Krieg zu proklamieren, schlug fehl, weil der Sultan als Kalif längst nicht mehr und insbesondere seit der jungtürkischen Revolution über genügende Autorität unter den Gläubigen verfügte. Der Zerfall des Osmanischen Reiches brachte auch das nominelle Erlöschen des Kalifats.

Dies war die Situation, aus der der heutige arabische Nationalismus erwuchs. Er nahm seinen Ausgang von Ägypten, das sich schon seit den Tagen der napoleonischen Expedition zunehmender Unabhängigkeit von der Hohen Pforte erfreute. Durch seine Lage im Westen aufgeschlossen und gleichzeitig mit der Hochschule E 1 A z h a r ein Zentrum islamischer Geistigkeit, war Ägypten an die Spitze der arabischen Welt berufen. In Syrien und Palästina war aus dem Widerwillen gegen die straffe türkische Verwaltung und vor allem gegen die in jungtürkischer Zeit unternommenen Versuche der Türkifizierung gleichfalls schon früh eine starke nationale Opposition entstanden, die nach Kairo hin Anlehnung suchte. Die weiterschreitende Erschließung des Raumes durch moderne Straßen und Verkehrsmittel brachte die einzelnen arabischen Staaten enger zusammen.

War der Panislamismus, abgesehen von einigen liberalfortschrittlichen Unterströmungen, ein von Istambul her unternommener Versuch, das morsche Gefüge des turko-byzantinischen Staates noch einmal zu festigen, reifte nun der Gedanke eines großarabischen Nationalstaates. Nicht oder nur wenig ergriffen davon schienen nur die Länder des westlichen N o r d a f r i k a, des Maghreb, einmal dank der Politik vom „überseeischen Frankreich“ und eines fortschreitenden kulturellen und zivilisatorischen Assimilationsprozesses, andererseits, weil das eigentlich arabische Element in diesen Gebieten die stärkeren autochtonen Bevölkerungsteile nicht aufzusaugen vermocht hat, was auch geschichtlich schon in einer frühen Sonderentwicklung zum Ausdruck gekommen ist.

Erwähnt werden kann, daß die schiitischen Bevölkerungsteile im Irak sich die längste Zeit in Gegnerschaft zu den Bestrebungen der großarabischen Politik befunden haben. Moderne Bewegungen, wie die Behaisten, die in der amerikanischen Diaspora eine gewisse Rolle spielen, oder die aus Indien stammende Ahmadijja-b e w e g u n g, die in aller Welt lebhafte Werbung betreibt, fallen für die arabischen Länder kaum ins Gewicht.

In diesem Zusammenhang ein Wort über die Stellung der arabischen Christen. Es handelt sich zum Teil um älteste Gruppen, die aus Arabien vertrieben, in Randgebieten seßhaft geworden sind. Die meisten von ihnen finden sich heute m Syrien und Palästina. Diese Christen, die vor allem unter den Türken wiederholtea Verfolgungen ausgesetzt waren, scheinen heute gesteigerte Duldung zu genießen. Am Palästina wird sogar von gemeinsamem Vorgehen der arabischen Christen und Moslims gegen die jüdischen Pläne berichtet. Man mag freilich skeptisch sein, ob dieses Verhältnis von Dauer sein wird. Immerhin haben die christlichen Volksteile durch die rege Tätigkeit der verschiedenen Missionen und die damit verknüpften Möglichkeiten geistig an Einfluß gewonnen. Ihre nationale Haltung ist, außer von wirtschaftlichen Erwägungen, wohl vor allem durch das Bestreben bestimmt, nicht eines Tages außerhalb ihrer Nation zu stehen.

Der arabische Nationalismus hat mit dem in jüngerer ■ Zeit in Europa aufgetretenen nationalen Strömungen manche Bedingungen der Entstehung gemeinsam, wie das Freiwerden nationaler Energien durch den Zusammenbruch alter, übernationaler Systeme und das Eindringen westlicher Auffassungen von Staat und Gesellschaft. Er unterscheidet sich wesentlich von ihnen durch seinen Anspruch und sein Ziel, Einigung der Nation des Propheten aus der Lebendigkeit ihrer religiösen Grundlagen her. Es sind bereits Bestrebungen zur Wiedererrichtung des Kalifats wachgeworden.

Von der Überbewertung biologischer und ökonomischer Momente hat die Forschung zur allmählichen Wiederentdeckung ihres religiösen Kerns zurückgefunden. Dies drängte erkenntnismäßig dazu, die Zusammenhänge religiöser und geschichtsphiloso-phischer Problematik neu aufzuweisen, wie es zum Beispiel Huizinga oder auch Berd-jajew unternommen haben, der die Beziehungen des russischen revolutionären Denkens zur ostkirchlichen Neognostik herausstellte. Selbst die Erscheinungen der jüngsten deutschen Geschichte erfuhren bereits einen Versuch der Deutung an ihren religionsgeschichtlichen Hintergrund in Tylors neuer „German History“, deren Erscheinen in der englischen Öffentlichkeit lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat. Bedeutete der Zusammenbruch der natürlichen Wertordnung eine Fehleinschätzung dessen, was außerhalb unserer Kulturgrenzen bei Völkern vorging, die nicht die gleiche Kulturkrise durchmachten wie wir, so sollten auch die bedeutendsten zeitgeschichtlichen Phänomene außerhalb des europäischen Kulturkreises von der Warte religionsphilosophischer Schau Beachtung finden. Eines von ihnen ist heute der arabische Nationalismus.

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