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Die Suche nach dem Sündenbod

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die Besinnung auf die Wirklichkeit. „Die Furche“

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die Besinnung auf die Wirklichkeit. „Die Furche“

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G. H., Algier, Ende August

Algerien war nie das Paradies auf Erden, das Montherlants poetische Phantasie in ihm sah, sondern stets ein Gebiet der Not, des Hungers und der Unruhen, so daß Situationen wie die gegenwärtige durchaus nichts Außergewöhnliches für die Bewohner dieses Landes bedeuten. Ein kapitaler Unterschied besteht freilich zwischen den Aufständen und Krisen von heute und denen der Vergangenheit: es ist nicht mehr ein starkes und gesundes, sondern ein zerrissenes, führungsloses, durch zwei ruhmlos verlorene Kriege geschwächtes und in seinem Ansehen bei der afrikanischen Bevölkerung schwer geschädigtes Frankreich, das sie meistern soll. In dem Mißverhältnis zwischen den Aufgaben, die sich heute Frankreich in Algerien stellt, und den Kräften, die zu ihrer Bewältigung vorhanden sind, liegt das ganze algerische Problem beschlossen. Nicht das Vorhandensein von Terrorbanden ist das Beunruhigende an der algerischen Situation, und es mutet eher grotesk an, daß Soldaten zum Kampf gegen halbzivilisierte Bergstämme auf einem Gebiet eingesetzt werden müssen, das bürokratische Hartnäckigkeit als französisches Departement ansieht. Viel beunruhigender ist, daß dieser Terror zu einer Waffe in der französischen Innenpolitik wurde, daß er auf jedem Parteikongreß je nach Propagandanotwendigkeiten und Wahlrücksichten dargestellt und eingeschätzt wird, daß in Algerien selbst die Klüngel und Cliquen ihn nach Belieben aufbauschen oder verniedlichen, wie es ihr augenblickliches Interesse erfordert, etwa um einen mißliebigen Generalgöuverneur zu stürzen, um Reformen zu verhüten oder um Forderungen nach neuen Subventionen zu rechtfertigen. Zu diesem Krieg der politischen Fellaghas, den die Tätigkeit von ein paar hungrigen Wegelagerern auslöste, kommen die wirtschaftlichen Probleme; zu deren Lösung vor allem Komitees gegründet und Projekte entworfen werden, kommt der Widerspruch, der sich aus dem Festhalten an vor 125 Jahren entworfenen Verwaltungsprinzipien und den Anforderungen der Gegenwart, vorab dem politischen Erwachen der- islamischen Völker (die ihre hungrigen Mägen aufweckten) ergibt, so daß dieser Berg drängender und drohender Aufgaben bei allen, denen die algerische Frage nahegeht, eine Panikstimmung hervorruft, die nach einem Sündenbock, der schuld an allen Schwierigkeiten ist, suchen läßt. Viele machen sich die Verwirrung in Algerien zunutze, und es ist darum nicht schwer, Urheber der Katastrophe der letzten Tage anzuführen, Schuldige nah und fern zu entdecken. So nahe freilich sieht niemand die Verantwortlichen für die heutigen Zustände, daß er sich selber mit anklagen müßte.

Die meisten Franzosen des Mutterlandes, alles, was „links“ steht — und wer, von Maurice Thorez bis zum Dorfpfarrer, der eine Kasse für ledige Mütter verwaltet, hielte sich nicht für „links“ stehend — die Intellektuellen und selbstverständlich die nationalistischen Parteien führen einen Hauptschuldigen an: den Colon, den Großgrundbesitzer. Es ist wahr, der Colon eignet sich vorzüglich für die Rolle des ersten Angeklagten in einem Schauprozeß. Seit Generationen nimmt er eine Ausnahmestellung ein; er bestimmt praktisch die algerische und zu einem guten Teil die französische Politik, und der Generalgouverneur, der ihm nicht zu Gesicht steht, bleibt nicht lange auf seinem Posten. Wirtschaftlich verstand er es, sich den Löwenanteil an der Beute von 1830 zu sichern: sein Getreide, seinen Wein hat das Mutterland unter allen Umständen abzunehmen, ihm werden wesentlich höhere Preise als dem französischen Bauern bezahlt, dafür gelten für ihn die niedersten Steuersätze und die untersten

Lohntarife. Er lebt in der Vorstellungswelt der Zeit vor 1914, wenn nicht vor 1789; der „Marechal“ war sein Mann, und so erbittert er die Deutschen haßt, so würde er doch jetzt sehr gern zwei, drei SS-Divisionen in Algerien am Werk sehen, die drastische Vergeltungsmaßnahmen für das letzte Blutbad durchführen.

Der Colon ist also gewiß nicht der Menschentyp, der außer bei sich selbst viel Sympathie fände. Aber wer könnte vergessen, daß alles, was es in Algerien gibt, die Straßen und Eisenbahnen, die modernen Städte, die Schulen, die Spitäler, die Stauwerke nur dank seiner Arbeit und Initiative zustande kamen? Auch der Unkundigste kann auf den ersten Blick ein Stück Land, das Colons, von einem, das Araber bebauen, unterscheiden, und selbst der erbittertste, zerlumpte arabische Landarbeiter wird einem ohne weiteres bestätigen, daß er lieber für den Colon arbeitet, der wenigsten die miserablen vorgeschriebenen Löhne zahlt, als für einen mosleminischen Grundbesitzer, der sich an keine Vorschrift hält. In einem Land ohne Mitleid, unter einem Volk, das systematische Arbeit verabscheut, mußte ein Menschenschlag wie der des Colons entstehen, und er wird so lange existieren, als Algerien ein Agrarland bleibt und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung jede Veränderung ihrer Lebens- und Arbeitsweise ablehnen, mit der Begründung, daß Mohammeds Vorschriften keiner Verbesserung bedürften. Der Einfluß der Colons in Algier und Paris konnte nur so groß

werden, weil man ihn groß werden ließ und weil die recht ansehnlichen Geschenke der Großgrundbesitzer überall gerne angenommen werden. Der Colon ist das Produkt einer bestimmten wirtschaftlich-geistigen Situation, und das Anathema, das man heute gegen ihn schleudert, trifft mehr die Folgen als die Ursachen der algerischen Verhältnisse.

Doch auch wer den Colon für den Urheber der algerischen Krise hält, zweifelt nicht daran, daß die Aufständischen Algeriens vom Nahen Orient her Instruktionen, Waffen und Geld bekommen. Vor wenigen Wochen schilderte ein Offizier der „algerischen Befreiungsarmee“, der den Franzosen in die Hände gefallen war, vor dem Mikrophon des Senders Algier, wie er in Aegypten und Syrien zum Kampf gegen den französischen Kolonialismus vorbereitet und schließlich über Libyen in das Rebellionsgebiet geschafft worden war, wo, wie ihm die nationalen Befreiungskomitees in Kairo beteuert hatten, Zehntausende von Soldaten und das gesamte Volk nur auf das Zeichen zum allgemeinen Aufstand warteten. Die Wirklichkeit — einige Banden, die Freischärler der „Armee Allahs“, eine nur unter Druck die Fellaghas unterstützende Bevölkerung — stimmte so wenig mit den Behauptungen der Befreiungsausschüsse überein, daß der junge Mann sich genarrt fühlte und bereit war, den Franzosen als Kronzeuge, gegen die Arabische Liga zu dienen.

Es ist zweifelsfrei, daß die „Befreiung Nordafrikas“ Ziel einiger arabischer Staaten ist und daß zu diesem Zweck Geld zur Verfügung steht, Waffen gekauft und Schulungskurse durchgeführt werden. Doch die Möglichkeiten und die Organisationsfähigkeit der „Liga“ sind beschränkt. Zudem pflegt Geld in arabischen Händen zu „versickern“, und es sind nicht die besten Waffen, die den Aufständischen geliefert werden. Daß die Arabische Liga das ihre tut, um das algerische Feuer zu schüren, ist unbestreitbar. Wenn sie jedoch dazu in der Lage ist, so weniger ihrer Stärke wegen als infolge der Schwäche und Zerfahrenheit ihres Gegners.

Aber alle Anklagen gegen Colons und Arabische Liga verblassen vor dem, was man den Angelsachsen vorzuwerfen hat. „England und Amerika umkreisen uns wie die Wölfe das Lamm“, rief ein Vertreter der Colons aus, und ein zittriger, alter Deputierter in einem der algerischen Räte, der den Konflikt von Faschoda erlenbar heute noch nicht überwunden hat, er klärte: „Dieser Aufstand ist Englands Werk.“ Wer mehr mit der Zeit geht, sieht in den Amerikanern die wahren Schuldigen, die mit ihrem Antikolonialismus,. ihren Versprechen an die nationalen Parteien, ihrem Appetit auf die algerischen Rohstofflager und ihrer Absicht, ganz Nordafrika zu einem amerikanischen Flugzeug- und Flottenstützpunkt zu machen, die Krise auslösten. So begegnet man kaum einem Franzosen in Algerien, der nicht den Angelsachsen die Absicht zuschriebe, Frankreich aus Nordafrika zu verdrängen, und der in jedem Fellagha einen Agenten des Secret Service oder des Pentagons sähe. „Gelingt es den Angelsachsen“, erklärte uns ein hoher französischer Offizier, „Frankreich um Nordafrika zu bringen, dann werden wir alle, Colons, Militärs und Industrielle, Kommunisten, dann stehen wir auf der Seite Rußlands.“

Es sind Anzeichen genug vorhanden, daß Amerika und England sich sehr für Nordafrika interessieren und diesem Interesse entsprechend Ausdruck geben. „Aber“, meinte ein amerikanischer Diplomat, „Frankreich scheint seit 1940 nicht mehr in der Lage, die Ordnung in Nordafrika aufrechterhalten zu können. Ist es nicht eine Sorgfaltspflicht, die entsprechenden Vorkehrungen dagegen zu treffen?“

Da viele Franzosen die Angelsachsen als ihre Hauptgegner in Algerien ansehen und manch überzeugendes Argument für ihre Behauptung vorbringen können, ergibt sich, daß nirgends so wenig von einer kommunistischen Gefahr die Rede ist als in diesem Land. Wohl weiß man, daß jede nationalistische Partei und vor allem die Gewerkschaften ihre kommunistischen Ratgeber haben, aber man hält den Islam für immun gegen das bolschewistische Virus und gibt der kommunistischen Propaganda eine nicht geringe Aktionsfreiheit. Rußland scheint sich tatsächlich in Algerien Zurückhaltung aufzuerlegen, um Frankreich zu zeigen, wo seine wahren Freunde stehen. Wäre es anders, wären kommunistische Sabotagespezialisten und Techniker des Partisanenkampfes in Algerien am Werk, so würden die militärischen Aktionen Frankreichs wohl kaum, wie bisher, zur Hauptsache aus Minister- und Deputiertenreisen bestehen können und ließe der Krieg gegen die Rebellen sich nicht von den Grand-Hotel-Hallen der Oasen am Rand des Aufstandsgebiets aus führen.

Eine Krise, wie die jetzige, hat zweifellos mehrere Ursachen und es ist verständlich, daß man sie festzustellen sucht. Es wird dabei jedoch offensichtlich, daß man die Krankheit, die Algerien befiel, für eingeschleppt hält, und sich bemüht, den Infektionserreger ausfindig zu machen, während es kaum jemand in den Sinn kommt, das Gebrechen als konstitutionell, als angeboren zu betrachten. Vielleicht liegt aber die Hauptquelle des Uebels gerade in der Konstitution des Kranken.

Lyautey, der Begründer des marokkanischen Protektorats, stellte die Grundregel auf, daß die europäische und die arabische Sphäre nie miteinander vermischt werden dürften und daß daher Frankreich sich hüten müsse, direkt in die Angelegenheiten der Eingeborenen sich einzumischen. Vergaß man schon in Marokko schnell diesen Rat, so ging man in Algerien überhaupt von den völlig entgegengesetzten Grundsätzen aus. Man wollte aus einem afrikanischen Land ein europäisches machen — freilich ohne auf die Vorteile, die Kolonialbesitz mit sich bringt, zu verzichten — man versah es mit französischen Institutionen, und als diese nicht funktionierten, schob und bog man sie so lange zurecht, bis das entstand, was man heute mit dem keineswegs rühmend gemeinten Ausdruck „demoeratie. ä l'algerienne“ bezeichnet.

Diese Zustände mochten andauern, so lange Frankreich stark genug war, um alle Widerstände dagegen zu unterdrücken. Als Abd el Kader, der achtzehn Jahre lang gegen die französischen Eroberer Krieg führte, sich 1848 endlich ergab, sagte er: „Ich hätte den Widerstand weitergeführt, wenn ich nicht zu der Ueber-zeuguhg gekommen wäre, daß Frankreich mächtig genug ist, um uns zu beherrschen.“ Aber die vielen Nachfolger Abd ei Kaders von heute haben genau die gegenteilige Lieberzeugung. Sie wissen um die Schwächen der französischen Innenpolitik, sie sehen einen Generalgouverneur nach dem andern in Algier ein- und wieder abziehen und sie erkennen genau, daß schon die Entsendung von ein paar französischen Regimentern zur Bekämpfung der algerischen Aufständischen es Frankreich schwer macht, seine militärischen Verpflichtungen in Europa zu erfüllen. Frankreich erscheint ihnen somit an einem konstitutionellen Leiden erkrankt zu sein und darin sehen sie den Grund, warum Algerien und seine mosleminische Bevölkerung so anfällig für von außen eingeschleppte Infektionen wurden.

So sind die blutigen Unruhen der letzten Tage, die über tausend Tote forderten, zu verstehen. Es wird lange dauern, bis das Land befriedet werden kann. Mit Bange sieht man den nächsten Monaten entgegen.

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