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Die Stunde des Gewissens

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Am Rande der leidenschaftlichen Debatten über die politische Zukunft von Algier ist in Frankreich eine andere, viel heftigere Bewegung sichtbar geworden, und zwar über einige höchst schwierige Gewissensfragen, die der Krieg in Nordafrika aufwirft. Die Bedeutung dieser Polemik sollte nicht unterschätzt werden. Von ihrem Ergebnis könnte sehr leicht der Ausgang des Dramas in Nordafrika abhängen.

Diese Polemik betrifft an sich nicht die Frage, ob Algier in Hinkunft unabhängig sein solle oder nicht. Die überwiegende Mehrheit der Franzosen ist der Auffassung, daß eine Unabhängigkeit von der Art, wie sie Tunis und Marokko zugestanden wurde, für „Französisch- Nordafrika“ — das ist Algerien — ausgeschlossen ist. Ebenso sieht eine große Mehrheit der Franzosen den Krieg in Algerien — und man kann ihnen hierbei nicht völlig unrecht geben — als einen gerechten Krieg an.

Was die Gewissen aufruft und teilt, sind vielmehr bestimmte Aspekte dieses Krieges: die untragbaren Methoden der „Pazifizierung“, Folterungen, sozialen Ungerechtigkeiten. Viele Menschen, unter ihnen junge Katholiken, und keineswegs die schlechtesten, leiden deshalb unter einem schmerzlichen Gewissenskonflikt. Was umschließt der Begriff „Vaterlandsliebe"? Was fordert er vom Staatsbürger, vom Soldaten zum Beispiel, der in ein fremdes Gebiet gesandt wird, mm dort nicht nur gegen eine reguläre Armee, sondern vor allem gegen Zivilisten zu kämpfen? Man erinnert sich vielleicht der Vorfälle, die sich zu Beginn der Wirren in Nordafrika in mehreren Kasernen in Frankreich zugetragen haben, als junge Soldaten sich weigerten, nach Nordafrika eingeschifft zu werden, Sicherlich waren diese Widersätzlichkeiten oft das Werk der Kommunisten, was ja das Problem beträchtlich kompliziert. Aber auch junge Katholiken haben solche Widerstände organisiert, wobei sie sich ausdrücklich auf ihr christliches Gewissen beriefen. Der Schreiber dieser Zeilen ist überzeugt, daß keines der katholischen Prinzipien den Ungehorsam dieser Leute rechtfertigen kann. Aber hier liegt nicht der Kern der Frage. Wir wollen lediglich feststellen, daß es in Frankreich sehr aktive Katholiken gibt, die in vollstem Ernste an der Mission der „Pazifizierung“ zweifeln, welche die französische Armee in Algerien durchführt. Hier muß die Haltung des „Temoignage Chretien“ erwähnt werden. Diese Wochenschrift, mit ihrem, wie es scheint, ständig wachsenden Freundeskreis, stellt gewissermaßen für sich allein einen Kreis aktiver Katholiken dar. Sie hat vom Beginn der Unruhen in Nordafrika an mehrere aufsehenerregende Publikationen veröffentlicht, in denen die offizielle Algerienpolitik heftig angegriffen wurde. Ebenso hat „Temoignage Chritien“, in Gesellschaft übrigens mehrerer Organe der „Neuen Linken“, wie zum Beispiel des „L’Express" des Sprachrohres von Mendds- France und des „France-Observateur“, den gleichen Gegenstand zu seinem Anliegen gemacht, der das Lieblingsthema der kommunistischen „Humanite" ist.

Die Haltung des „Timoignage Chritien" hat bei vielen katholischen Franzosen Anstoß erregt. Die Mehrheit der französischen Katholiken ist in ihren Ansichten konservativ und war daher schockiert von der Art, wie eine Anzahl von jungen Erneuerten, die ihr Wesen oft in der Resistance oder im Kriege geformt hatten, ihre Zweifel an Dingen äußerten, die bisher als sakrosankt gegolten hatten: die Wohltaten der französischen Zivilisation in Nordafrika, der Ruhm des französischen Heeres und die geheiligten Rechte Frankreichs auf dem Boden Algeriens. So hatte es die offizielle Propaganda nicht schwer, diese Publikationen lediglich als ein antipatriotisches Komplott, von geheimen kommunistischen Fäden gezogen, hinzustellen.

Aber die Anklagen haben nicht aufgehört. Sie erfuhren im Gegenteil neuen Antrieb, als im März dieses Jahres plötzlich und völlig unabhängig von den erwähnten Publikationen einige sehr bemerkenswerte Veröffentlichungen erschienen. Jean-Jacques Servan-Schreiber, Chefredakteur des „L’Express", veröffentlichte unter dem Titel „Als Leutnant in Algerien“ seine Erfahrungen während seiner militärischen Dienstzeit in Algerien. Pierre Henri Simon, Romanschriftsteller und Professor der Moral an der Universität in Freiburg, ein glühender Katholik, veröffentlichte ein kleines Buch „Gegen die Tortur", in dem ein Kapitel ein „Bündel von Tatsachen" brachte, schreckenerregende Zeugnisse von Torturen, deren sich die Armee in Algier schuldig gemacht habe. Der „Temoignage Chretien“ steuerte seinerseits in einer Art von Weißbuch die Briefe eines in Algier gefallenen jungen Katholiken, das „Dossier Jean Müller", bei.

Diese im März veröffentlichten Dokumente, die, wie gesagt, völlig unbeeinflußt voneinander erschienen, lösten eine Kettenreaktion aus, die heute noch nicht abgeschlossen ist. Es ist völlig unmöglich, im Rahmen dieses Aufsatzes auch nur eine Uebersicht über alle Dokumente und Gegendokumente, Zeugnisse und Gegenzeugnisse zu geben, die in den letzten Monaten hierüber erschienen sind. Erwähnt seien wenigstens die aufwühlenden Berichte einer Gruppe katholischer Feldprediger sowie die Geste des Generals de Bollardire, der sich mit den Berichten von Servan-Schreiber solidarisch erklärte und die Enthebung von seinem Kommando in Algerien forderte. Die Auszeichnungen, die General de BollardUre für seine bei Arnheim und in Indochina bewiesene Tapferkeit erhalten hat, beweisen, daß es sich hier keineswegs um einen „weichen" Intellektuellen oder um einen Theoretiker handelt.

Die Gesamtheit der in den letzten Monaten veröffentlichten Publikationen dieser Art ergibt einen eindrucksvollen Akt. Unter seiner Wirkung beginnt die öffentliche Meinung in Frankreich über die Beteuerungen der -Regierung … u»d;..fervRechten Unbegriffen die offizielle SHO skeptisch zu werden. Gleichzeitig haben die .Debatten über diese schmerzlichen Dinge dazu beigetragen, in Frankreich eine beispiellose Epoche der Demagogie, einzuleiten. Es genügt ein Blick in die französische Presse: Injurien werden da zur geläufigen Sprache der Politik. Wenn man gewissen Politikern und Zeitungen Glauben schenken wollte, würde sich das gegenwärtige Frankreich nur aus Kommunisten bestenfalls’„Progressisten“ und aus Faschisten, Reaktionären und „Ultras" zusammensetzen. Daraus ergibt sich ein wenig anziehendes Schauspiel, und es ist nicht schwer vorauszusagen, daß die Kommunisten — wir meinen die echten — die einzigen sein werden, die davon Nutzen ziehen. Unter jenen Franzosen, die sich sachlich bemühen, die Situation zu erkennen, ist die Verwirrung vollkommen. Man weiß nicht mehr, was man glauben soll. Auch die einfachsten „tatsächlichen Angaben“ über die Ereignisse zirkulieren in zwei Versionen. Für diese Verwirrung ist die französische Regierung in voller Schwere verantwortlich, da sie mitunter mit Vorbedacht falsche Dokumente und Erklärungen veröffentlicht und die Zensur, die an sich angesichts der Ereignisse sicher notwendig ist, gänzlich in den Dienst ihrer Ziele stellt.

In dieser Atmosphäre voll leidenschaftlicher Demagogie hat man von mehreren Seiten immer wieder versucht, die Autorität des Episkopats in die Diskussion hineinzuziehen, offensichtlich, um sich ihrer zu politischen Zielen zu bedienen. Man versteht, daß die Bischöfe dies beharrlich verweigert haben. Weder in der Nation noch unter den Katholiken, die sich in Frankreich auf zahlreiche Parteien links und rechts verteilen, wollen die Bischöfe ein Spielball der politischen Kontroverse werden. Diese Haltung des französischen Episkopats stammt keineswegs aus dem gegenwärtigen Augenblick. Er hat sich immer bemüht, die Gewissensfreiheit der Christen gegenüber der Tagesmeinung zu wahren. Bei den letzten allgemeinen Wahlen haben es die Bischöfe sogar abgelehnt, zu erklären, daß das Problem der Schule — Gegenstand so vieler Sorgen der Kirche — ein ausschließliches Kriterium für die Wahl der Christen wäre. Der Episkopat erkannte vielmehr ausdrücklich an, daß gegenwärtig viel wichtigere Fragen des allgemeinen Wohles zur Entscheidung stünden.

Im Mai hat der Episkopat diese seine Haltung nochmals bekräftigt, indem er sich weigerte, der JEC Jeunesse Etudiante Catholique, einem Zweig der ACJF — Action Catholique de la Jeunesse Franfaise —, zu gestatten, in welcher Partei immer bestimmte politische Stellungen einzunehmen. Diese Weigerung hatte zur Folge, daß die 80 Landesleiter der JEC zurücktraten und eine Krise offen ausbrach, die schon seit langem im ACJF schlummerte. Auch hier scheint die algerische Frage die Leiter der JEC bewogen zu haben, nicht mehr zu schweigen und — als Katholiken — notgedrungen das Wort zu ergreifen.

Das Organ von Lä Route die „Routiers“ sind die ältesten jungen Leute in der Pfadfinderbewegung; sie tragen rote Distinktionen auf ihren Uniformen veröffentlichte Briefe von Jean Müller — der ebenfalls bei Lebzeiten Routier gewesen ist — und forderte gleichzeitig dazu auf, das Pamphlet des „Temoignage Chrötien“ zu kaufen. Der Generalkommissär der Scoutbewegung in Frankreich protestierte lebhaft, was zur Folge hatte, daß das nationale Generalquartier demissionierte.

Schließlich seien noch die Beschlüsse erwähnt, die die JOC Katholischer Arbeiterjugend, ein anderer „spezialisierter Zweig“ der ACJF mehrfach über Algerien gefaßt hat. Sie 'assen keinen Zweifel über die — gelinde gesagt — außerordentlich kritische Haltung, die die JOC zur gegenwärtigen Algerienpolitik einnimmt. Der Episkopat hat bezeichnenderweise diese Beschlüsse nicht desavouiert.

Diese Strömung unter den jungen französischen Katholiken ist nicht zu unterschätzen. Es handelt sich dabei um eine'Bewegung, deren Kraft nicht eigentlich in der Zahl ihrer Anhänger besteht — obwohl diese für ganz Frankreich auch nicht übersehen werden darf —, sondern vielmehr in der tiefen Ueberzeugung, die sie beseelt.

Wenn sich der französische Episkopat aus diesen politischen Debatten heraushält, so hindert'ihn'das doch nicht, wie es ihm seine Aufgabe verschreibt, m'üiitfhitial bestimmte- unverletzliche Grttndlehren ins' Gedächtnis '2tf"rafen. So haben die Erzbischöfe und Bischöfe Algeriens und des französischen Mutterlandes mehrmals erklärt, daß es niemals erlaubt ist, auch nicht in guter Sache, sich „wesentlich schlechter Methoden“ zu bedienen. Schon lange vor der öffentlichen Debatte über die Torturen haben sie Sich klar gegen den Mißbrauch der Macht und gegen kollektive Zwangsmaßnahmen ausgesprochen.

In der allgemeinen Verwirrung der Geister konnten — oder wollten — es manche nicht verstehen, als Kardinal Feltin in ein und derselben Rede erklärte, daß nach Ansicht der Kirche einerseits die Pflicht bestünde, den „Selbständigkeitsbestrebungen der kolonisierten Völker nachzugeben“, anderseits aber dem Gründer einer Kolonie gewisse Rechte aus der Kolonisation erwachsen, die ja in der Hauptsache ein Erziehungswerk ist. Die Reaktion auf solche Kundgebungen ist kurios; Kardinal Feltin wird gleichzeitig von zwei Seiten angegriffen und im selben Atem als „Reaktionär“ und als „Progressist" denunziert…

Charakteristisch für die Haltung des Episkopats war die Rede, die Kardinal Gerlier beim Treffen der „Freunde des Temoignage Chretien“ in Lyon 1956 gehalten hat. Der Kardinal stellte fest, daß sich ein Teil der Leser und Freunde des „Temoignage Chretien“ der „allgemeinen Richtung, die sich in diesem Blatt in jüngster Zeit mehr und mehr ausprägt", widersetze und fordert das Blatt auf, diese Richtung zu revidieren, um nicht Zwistigkeiten unter Franzosen und Katholiken zu säen. Aber trotz dieser schwerwiegenden Warnungen ließ der Kardinal nicht den geringsten Zweifel über den außerordentlichen Wert bestehen, den die Bischöfe Frankreichs einem Wochenblatt wie dem „Temoignage Chretien" beimessen. „Ich habe von Anfang an daran geglaubt, und ich werde immer daran glauben, daß sie eine sehr wichtige Rolle spielen, und daß es notwendig ist, daß auf dem weiten Gebiet der Grundsätze, die ein Christ erlaubterweise vertreten kann, die Menschen, wenigstens jene, die im allgemeinen ihre Weltanschauung teilen, eine Plattform fänden, um sich auszusprechen. Ich kenne ihre große Verbreitung und ihren Dynamismus… Aus diesem Grunde habe ich vor kurzem in einem Brief, zu dem ich mich voll bekenne, ausgesprochen, daß das Verschwinden des ,.Temoignage Chretien' sehr schmerzlich wäre und eine empfindliche Lücke auf dem komplizierten Schachbrett unserer katholisch inspirierten Presse hinterlassen würde. Die Vollversammlung der französischen Bischöfe war meiner Ansicht.“ Auf die oben erwähnte Kritik zurückkommend, sagte der Kardinal wörtlich: „Ich werde niemandem erlauben, wer immer es auch sei, meine Worte als eine Verurteilung aufzufassen wie eine Verurteilung irgendeines Journals; meine Worte bedeuten lediglich ein Bedauern und einen Vorhalt gegenüber einzelnen Artikeln …"

Der französische Episkopat ist also weit davon entfernt, seinen Getreuen eine bestimmte politische Richtung aufzuzwingen und scheint darauf zU bauen, daß die Vielfalt der Richtungen unter den französischen Katholiken wie schon immer, so auch in dieser Stunde nur ein Zeichen fruchtbarer geistiger Regsamkeit ist.

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