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DER HUNGER WÄCHST MIT DER BEVÖLKERUNG

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FURCHE: Ist Hunger ein neues Problem, oder hat es Hunger in der Geschichte - von Mißernten abgesehen - schon immer als langfristiges Phänomen in einzelnen Regionen gegeben?

GÜNTER FISCHER: Der Mensch hat immer den größten Teil seiner Zeit damit verbracht, Nahrung zu suchen oder Nahrung zu produzieren. In der neueren Zeit ist Hunger allerdings ein wesentlich akuteres Problem in manchen Teilen der Welt geworden, im wesentlichen dadurch, daß die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion nicht dem vermehrten Bevölkerungswachstum standgehalten hat.

FURCHE: Wo ist das die besondere Ursache für Hunger?

FISCHER: In den fünfziger, sechziger Jahren war der akuteste Nahrungsmangel in Südostasien, Indien, Pakistan. In den letzten 20 Jahren ist das Problem immer mehr in Afrika akut geworden. Es sind auch die Voraussetzungen so, daß sich der Anteil der Hungernden an der geschätzten Zahl der Unternährten der Welt immer mehr in Afrika vergrößern wird. Denn derzeit ist das Bevölkerungswachstum in Afrika deutlich höher als in anderen Teilen der Welt.

FURCHE: Ab welcher nicht erreichten Kalorienmenge spricht man von Hunger?

FISCHER: Eine genaue Zahl hier anzugeben ist sicher sehr kontrover-siell. Aber als Norm könnte man einen Wert etwa um 2.200 Kalorien als untere Grenze ansetzen. Man muß dazu sagen, es hängt auch von der Körpergröße, von den klimatischen Bedingungen ab. Umgekehrt hängt die Körpergröße vom Energieeinsatz über die Jahre ab. Es ist ein rückbezügliches System.

FURCHE: Nun gibt es Länder, wo dieser Wert nicht erreicht wird. Das heißt, selbst bei optimaler Verteilung im Land würden nicht alle satt werden...

FISCHER: Es gibt mehrere Gründe dafür, warum das Nahrungsmittelangebot in einem Land nicht den Bedarf erreicht. In manchen Ländern ist es Ressourcenknappheit. Es gibt Länder wie Bangladesch, die sehr dicht besiedelt sind und alles Land bereits nutzen. Anderseits gibt es Länder, wo die politischen Bedingungen ein wesentlicher Grund für das Auftreten von Hunger sind. Ein typisches Beispiel sind einige Länder in Lateinamerika. Das dritte Problem würde ich als typisch für Afrika bezeichnen: daß die Entwicklung des Landes ganz einfach nicht dem Bevölkerungswachstum standgehalten hat.

In Afrika ist natürlich auch politische Instabilität ein wesentlicher Grund. Nigeria hatte mit dem Öl in den siebziger Jahren gute Voraussetzungen, hat aber dieses Einkommen nicht optimal verwendet, heute hat es Probleme in der Nahrungsmittelversorgung. Die wesentlichen Gründe sind politische Instabilität bis zum Krieg, soziale Ungleichheiten, Land-, Einkommensverteilung, sicher auch das enorme Bevölkerungswachstum, das selbst bei einer Entwicklung der Ökonomie schneller ist und alles aufzehrt, was zu verteilen wäre.

FURCHE: Seit wann befaßt man sich am 1IASA mit dem Problem und zu welchen Ergebnissen ist man gekommen?

FISCHER: Wir beschäftigen uns mit der Ernährungsproblematik seit 1976/77. Damals gab es sehr viele trübe Voraussagen über die Zukunft der Welternährung. Wir überlegten damals: Was könnten internationale Maßnahmen dazu beitragen, um die Ernährungssituation weltweit zu verbessern? Im wesentlichen kamen wir dabei zu dem Schluß, daß sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch im intemationen Kontext stark vermehrt eine bessere Nutzung der Ressourcen stattfinden sollte.

Nationale Programme müßten dazu dienen, den landwirtschaftlichen Sektor besser zu entwickeln, vor allem zu versuchen, die Hungrigen, die im wesentlichen deswegen hungrig sind, weil sie arm sind und daher keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, in Programmen oder im Entwicklungsprozeß zu erreichen. Die Gründe, warum die Hungrigen arm sind, sind ebenfalls vielfacher Natur. Oft hat es damit zu tun, daß sie mangelnde Ausbildung haben, ein Umstand den man nicht von heute auf morgen ändern kann.

Ein Ziel ist es auch, die Bildung zu verbessern. Oft wird erwähnt, daß zum Beispiel die Bildung der Frauen sich positiv auswirken würde - einerseits um das Bevölkerungswachstum zu reduzieren, weil wahrscheinlich besser gebildete Frauen weniger Kinder gebären würden, weiters, weil in vielen Entwicklungsländern die Frauen ja wesentlich an der landwirtschaftlichen Produktion beteiligt sind, oft sogar die Hauptlast tragen. Daher wäre es notwendig, neuere Technologien, vorausgesetzt es sind umweltfreundliche Technologien, an diese Frauen heranzutragen.

Wir haben auch berücksichtigt, daß trotz all dieser nationalen Bemühungen die nationalen Ressourcen oft nicht ausreichen würden, diese Programme zu finanzieren, ohne daß andere Teile der Wirtschaft Schaden leiden würden. Wir plädieren auch dafür, die internationalen Hilfsleistungen zu erhöhen. Wir haben Szenarien durchgerechnet, die auf Hilfeleistungen auf dem seinerzeit international anerkannten Niveau von einem halben Prozent vom Bruttonationalpro-dukt beruhten. Der Prozentsatz ist aber eher zurückgegangen. Unter der Annahme, daß dieses Niveau erreicht wird, sehen wir natürlich nach 20 Jahren Besserungen in der internationalen Ernährungssituation.

FURCHE: Sehen Sie jetzt schon Verbesserungen gegenüber der Situation vor 20 Jahren?

FISCHER: Ich glaube, hier gibt es zwei Maße. Der Prozentsatz in einem Land, von dem man annimmt, daß er sehr unterernährt oder falsch ernährt ist, ist nach internationalen Schätzungen in den letzten 20 Jahren etwas zurückgegangen. Anderseits sjnd die Absolutzahlen aufgrund der wachsenden Bevölkerung gestiegen. Man kann mit einem lachenden Auge sagen, es ist besser geworden, kann aber auch sagen es ist überhaupt nicht besser geworden, weil es eher mehr geworden sind, die hungrig sind. Die Schätzungen liegen in der Größenordnung von 500 bis 700 Millionen Menschen. Die FAO kommt für 1980 auf 500 Millionen, die Weltbank kommt auf 700 Millionen. Im Prozentsatz der Bevölkerung sindes 1980 15 und für 1970 19 Prozent der Bevölkerung. Am höchsten ist es in Afrika und in Asien. Man sieht aber, daß Asien eine wesentlich stärkere Verbesserung hat als Afrika.

FURCHE: Woher kommen Aussagen, daß zwei Drittel der Menschheit hungern?

FISCHER: Die sind überzogen. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln in den westlichen Industrieländern liegt sicher deutlich über 3.000 Kalorien, wobei natürlich viel weggeschmissen wird. Diesen Standard werden die Entwicklungsländer, absehen von Ausnahmen, nicht erreichen. Eine große Verbesserung hat es in China gegeben. China hat sich in den achtziger Jahren ganz gut entwickelt. Das ist vor allem durch die verbesserten Saatgutarten und die intensivierten Düngemethoden gelungen.

FURCHE: Hunger ist offensichtlich eng mit stark wachsender Bevölkerung verbunden. Wo gibt es heute das größte Bevölkerungswachstum?

FISCHER: Kenia war lange Zeit führend. Afrika liegt so um die drei Prozent. Kenia hat fast vier Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr gehabt. Ursache ist sicher auch die verringerte Sterblichkeit, die medizinische Versorgung ist besser geworden. Die Senkung der Sterberaten ist früher eingetreten als die Senkung der Geburtsraten. Das war in Europa auch so. wobei alles mehr Zeit gebraucht hat und es nicht zu einem so explosiven Bevölkerungswachstum geführt hat. Kenia hat Ende dersiebziger Jahre um 15 Millionen gehabt, die Voraus-Schätzung für das Jahr 2000 sind 38 Millionen, für 2050 kommt man weit über 100 Millionen.

FURCHE: Glauben Sie, daß man auf der ganzen Erde in den nächsten Jahrzehnten des Hungerproblems Herr werden wird?

FISCHER: Man kann sagen daß zumindest für die derzeitige Bevölkerungszahl die Produktionsmöglichkeiten der Erde ausreichen, das heißt, von der Ressourcenseite her wird und kann man genug Nahrungsmittel produzieren. Leider ist sowohl die Verteilung der Ressourcen wie auch die politische, soziale Verteilung der Ressourcen innerhalb der Länder ungleich, und daher ist es schwierig Zu sagen, was passieren wird. Wenn sich die politischen Bedingungen nicht ändern, kann man davon ausgehen, daß der Hunger weiter ein Phänomen sein wird. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sich das Problem von allein lösen wird. Bei gutem Willen aller Beteiligten, bei Reduzierung der Ausgaben für Militär, ist sicher zumindest eine wesentliche Reduzierung des Anteils der Hungrigen denkbar. Auch in unseren Ländern gibt es zumindest einen kleinen Anteil derer, die durch diverse soziale Netze fallen und ebenfalls hungrig sind. Es wird immer ein paar Hungrige geben, solange das die Gesellschaft toleriert. Diese kleinen Prozentsätze sind nicht wirklich ein finanzielles, sondern bloß ein soziales Problem.

FURCHE: Es ist aber erschrek-kend, wie hoch die Zahlen in manchen Ländern sind...

FISCHER: Dort sollte man kein Mittel unversucht lassen, auf politische, soziale Veränderungen zu drängen, aber man sollte sich auch bemühen, vermehrt finanzielle Hilfe zu leisten - in Form von Entwicklungsprogrammen. Das Hungerproblem kann nur gelöst werden, wenn sich letztlich diese Länder selber ernähren können. Dies können sie aber nur. wenn der Druck, der durch das Bevölkerungswachstum erzeugt wird, reduziert wird und wenn die Ressourcen vorhanden sind, die Wirtschaft in einer Weise zu entwickeln, daß die Produktion ökologisch ist, nicht die eigenen Ressourcen zerstört-das wird in vielen Fällen nur mit internationaler Hilfe gehen.

Dr. Günther Fischer leitet das Projekt Wellernährung am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg.

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