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Die Grotesken der Zahlen

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Die reichen Leute haben keine Kinder, da sie sich einbilden, sich diese nicht leisten zu können, die armen Leute haben Kinder, obwohl sie sich nidit einmal das Lebensnotwendige leisten können. So hieß es früher; inzwischen wurde das Problem arif internationales Niveau gehoben. Es geht nicht mehr um „Leute“, sondern ganze Nationen: Die Ära des Massenwohlstands ist zugleich diejenige des Massenelends, eines Elends, welches nicht mehr mit ein paar Sp»enden gelindert werden kann, sondern das eine globale Strategie notwendig ntacht.

Unter diesen Aspekten wurde die Weltbevölkerungskonlerenz der UNO nach Bukarest einberufen, wo sie nun vom 19. bis 30. August tagt. Von ihr sagte UN-Oeneralsekretär Waldheim — etwas vorschnell, wie es nach den bisherigen Resultaten den Anschein hat — in seiner Eröffnungsansprache, sie stelle einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit dar.

Die globale Situation ist wahrhaft grotesk: Die Industriestaaten erhöhen alljährlich ihren Lebensstandard und senken gleichzeitig ihre Gebur- tenratc. Hätten sie nicht die Gastarbeiter, die — neben anderen Arbeiten, die sonst niemand mehr machen will — auch das Kinderkriegen besorgen, die Bevölkerungsbilanz — also die Resultante aus Natalitäts- und Mortalitätsrate — wäre hier bereits generell in die roten Zahlen gerutscht.

Österreich liegt in dieser Beziehung im negativen Spitzenfeld: Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate der Bevölkerung von 0,4 Prozent pro Jahr (Zeitraum 1965 bis 1971) befindet es sich in Europa nach der DDR (0,0 Prozent) sowie nach Ungarn, Finnland und Luxemburg (je 0,3 Prozent! am drittletzten Platz zusammen mit der CSSR und Belgien.

Die Situation wird noch grotesker, wenn man in Rechnung stellt, daß in vielen Indu?trlestaaten Heiraten, und Kindersegen staatlich prämiiert werden und die Eltern darüber hinaus alle möglichen direkten und indirekten Erziehungszuschüsse erhalten, während die zahllosen Armen der Entwicklungsnationen selbst dazuschauen müssen, wie sie ihre große Kinderschar durchbringen.

Dem mag zwar entgegengehalten werden, daß alles, was bisher in den Industriestaaten für die Familien, speziell die kinderreichen, getan worden ist, noch viel zuwenig seL Aber Hand aufs Herz: Glaubt wirklich jemand ernstlich daran, daß durch noch mehr Förderungsmaß- nafhmen — so wünschenswert sie aus sozialpolitischen Gründen sein mögen — die „Baby-Baisse“ überwunden werden könnte? Gehen nicht sogar Geburtenrückgang und verbesserte Familienförderung Hand in Hand? Es handelt sich also in erster Linie um ein psychologisches und soziologisches Problem, welches mit finanziellen Mitteln kaum gelöst werden kann.

Ganz anders bei den Bntwick- lungsnationen. Trotz bitterster Armut finden sich dort Bevölkerungszuwachsraten von gelegentlich drei und mehr Prozent und Geburtenra- ten bis zu nahezu sechs Prozent pro Jahr.

Ein häufig gebrauchter Ein wand lautet, daß gerade die Armut die Schuld der hohen Geburtenraten sei. Man müsse daher nur den Lebens standard der Entwicklungsnationsn heben, und die Geburtenraten würden von selbst sinken.

So einfach liegen die Dinge leider nicht: Abgesehen davon, daß gerade die hohen Geburtenraten vielfach eine Hebung des Lebensstandards verhindern, gehören beispielsweise diverse Ölländer, deren allgemeiner Lebensstandard sich durchaus mit dem höchsten europäischen messen kann, zu den Staaten mit dem allergrößten „Baby-Boom“. Genausowenig, wie staatliche Geschenke in den Industriestaaten die Geburtenfreudigkeit heben können, vermag eine Steigerung des, Lebensstandards diese in der dritten Welt zu reduzieren. Mentalität und Tradition spielen hier eine viel entscheidendere Rolle als die materiellen Perspektiven, die die modernen Technokraten als die einzig realen gelten lassen wollen.

Lange Zeit ließ man offiziell als richtige Lösung des Geburtenproblems ausschließlich mehr Hilfe für die kinderreichen Familien und Nationen gelten. Auch in Bukarest wird diese Sprachregelung noch immer von den Entwicklungsnationen gebraucht.

So sympathisch diese Lösung wäre, wir dürfen nicht die fatale Tatsache übersehen, daß wir — zumindest vorläufig — den Kampf gegen den Hunger verloren haben. Noch vor einem Dezennium galt dieser als so gut wie gewonnen: Ernährungsexperten — darunter so angesehene wie Colin Clark und Fritz Baade — prognostizierten eine Ara des Überflusses, mit dem noch so hohe Geburtenraten nicht würden Schritt halten können. Als 1967 die Brüder William und Paul Paddock eine Hungersnot für 1975 voraussagten, wurden sie noch belächelt. Wer heute die Situation in vielen Staaten der dritten Welt — nicht nur in der Sahel-Zone und in Indien — in Betracht zieht, dem ist das Lachen vergangen, um so mehr als auch die USA — ein traditionelles Getreideüberschußland — in diesem Jahr einer Mißernte entgegengehen, so daß selbst die Deckung des eigenen Bedarfs fraglich ist, gar nicht zu reden von einer Belieferung anderer Gebiete.

Wir müssen daher wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, daß ein duTChschnittliches Weltbevölkerungswachstum von zwei Prozent pro Jahr zuviel ist, daß auch bei größerer internationaler . Solidarität, als wir sie heute erleben, die moderne Industrie und Technik nicht imstande wären, für die jährliche Vermehrung der Weltbevölkerung um nahezu 80 Millionen — daß ist mehr als die Bewohner beider Deutschland zusammengenommen — die nötigen Ressourcen zu schaffen.

Daß eine gewisse Geburtenkontrolle — die ja nicht in den Mord am Ungeborenen abgleiten muß — unvermeidlich ist, wird heute zunehmend auch von katholischer Seite anerkannt.

Auf der Weltbevölkerungskonferenz dominieren allerdings die Unbelehrbaren, die gerade unter den Repräsentanten jener Staaten zu finden sind, die Geburtenkontrolle am nötigsten hätten. Und während man in Bukarest diskutiert, sich in ideologischen Banalitäten über bessere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ergeht, sterben täglich Tausende und Abertausende an Unterernährung, Tausende, die nicht Ideologie, sondern Nahrung brauchen.

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