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Land ohne Klassen

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Nur ein Land hält sich an die Brüsseler Sklavenkonvention, obwohl es sie gar nicht unterzeichnen konnte. In dieser Konvention verpflichteten sich die zivilisierten Staaten, entkommene Sklaven und deren Familien auf ihren Gebieten aufzunehmen, sie zu befreien, für deren Ernährung und Erziehung zu sorgen und sie nicht wieder an das Sklavenland auszuliefern. Von der Farbe der Sklaven war keine Rede.

Der Begriff des Sklaven bedeutet: Knecht ohne Recht. Als der nationalsozialistische Staat große Gruppen, keineswegs nur „Nichtarier", knechtete und entrechtete, vergaßen alle Länder aus wirtschaftlichem Unverstand und politischer Feigheit auf die Pflichten der Konvention. Aehnliches erfahren heute viele Völker des Ostens.

Nur ein Land vergißt auf Bequemlichkeit und wirtschaftliche Folgen. Für Israel ist Ziel des Staates: jeden Juden, vor allem den, der in einem Lande Europas, Asiens oder Afrikas •1s Jude oder als Mensch verfolgt und geknechtet wurde, aufzunehmen. Diesem Ziel müssen sich alle anderen Tätigkeiten von Volk und Staat anpassen. Hat der Verfolgte den kleinen Boden Israels betreten, so ist er frei und geschützt, ist ein Bürger des Landes. Niemand fragt nach seinem Visum oder seinem Geld. Ist er krank, so wird er geheilt. Ist er alt, so wird er versorgt. Jeder wird behaust und genährt; ärmlich, denn mehr kann sich das Land nicht leisten. Dann wird ihm Arbeit verschafft, oder er wird für Arbeit geschult. Hat er einmal Arbeit gefunden, so hat er, oder sie, auf bescheidenem Niveau, ausgesorgt. Die ungeheuren Arbeiten des Landes brauchen Arbeiter. Die vorhandene Arbeit wird, nicht ohne sozialistische oder inflationistische Methoden, auf die vorhandenen Arbeiter verteilt. Wer arbeiten kann, wird Arbeit finden. Dieses System drückt die Lebenshaltung des ganzen Volkes auf ein bescheidenes Niveau, das vielen dürftig erscheint. Nur in einem wird nicht gespart: in der Ernährung und der Erziehung der Kinder.

Hätten aber die Länder der Erde den nach 1934 flüchtenden Sklaven gegenüber die gleiche — nicht nur menschliche, sondern auch kluge — Haltung gezeigt, so wäre die Wirkung für sie eine ganz andere gewesen. Sechs, mit ihren Nachkommen heute acht Millionen Menschen mehr würden leben, würden ihren neuen Heimatländern Werte von über 16 Milliarden Dollar im Jahr erzeugen. Menschen wären gerettet, Länder wären bereichert, der Hölle wären Opfer entrissen worden. Letzten Endes ist auch für Regierungen Menschlichkeit klug.

Das kleinste und ärmste Land zeigt diese Klugheit. Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sie sich auf seine Oekonomie Äid Soziologie auswirkt. In der Wirtschaftsgeschichte steht es einzig da, daß die Bevölkerung eines Landes sich in sechs Jahren mehr als verdoppelt. Dieser Zuwachs wurde, wenn auch mit Beschwerden, verdaut. Das Ergebnis zeigt:

Die Juden sind kein Volk. Die verschiedenartigsten Gruppen, von einander mehr unterschieden als Norweger und Jugoslawen, die nur, teilweise, Religion und Verfolgung gemeinsam haben, werden in phantastisch kurzer Zeit — in einer Viertel-, in einer halben Ge. neration — zu einem neuen Volke verschmolzen, das physisch und geistig nur wenig Merkmale der Teile zeigt.

Dies neue Volk sieht ganz anders aus und handelt ganz anders, als man erwartet hätte. Erstklassig ist: Armee, Landwirtschaft, Verkehr, ein Teil der Industrie. Zweitklassig: Handel und Finanz. Drittklassig: Spekulation und (wegen Mangel an Tradition und Schulung) Verwaltung. Ein Volk von Soldaten und Bauern ist entstanden, in dem Reichtum scheel . angesehen und Spekulation verachtet wird. Es läßt sich am ehesten mit den Schweizern des 14. Jahrhunderts, mit den technischen Mitteln des 20. Jahrhunderts versehen, vergleichen; auch in seinem Entschluß, sein Land gegen jeden Feind zu verteidigen. Die Armee ist halb so groß wie die Indiens, sie ist — ohne die Sowjetheere in Betracht zu ziehen — die bestausgebildete Asiens. Eine zweieinhalbjährige Militärpflicht für Männer und Frauen dient nicht nur Zur Ausbildung, sondern auch Zur gleichzeitigen Erziehung der Jugend. Jungen, die noch vor zwei Jahren in den Höhen Algeriens öder in den Hütten Jemens hausten, bedienen heute Radargeräte. Wenn dreizehnjährige Knaben und Mädchen ihre Ausflüge durch das Land in Lastwagen machen, nehmen sie Gewehre mit. Nicht zu bloßem Spiel, sondern als Wehr gegen Grenzüberfälle.

In keinem anderen Land sind Kleidung und Nahrung so gleichmäßig und die Wohnungen so wenig voneinander verschieden. In der lan-

gen oder kurzen Hose kann man jeden Minister besuchen, der ebenso bekleidet hinter seinem einfachen Schreibtisch sitzt. Die Einkommen unterscheiden sich relativ wenig, mit allen guten und schlechten Folgen einer solchen Angleichung. Eine Vierzimmerwohnung ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Im Gasthaus setzt sich der Angestellte selbstverständlich an den Tisch seines Chefs, der Chauffeur an den des Fahrgastes. Man kann auch nie wissen, ob der Buchhalter oder der Chauffeur nicht ein Doktor der Philosophie ist; und man kann damit rechnen, daß er ein paar Sprachen spricht und über einen Teil der Literatur besser Bescheid weiß als Direktor oder Fahrgast.

Daß höherer Leistung nicht entsprechend höherer Lohn winkt, daß Gehälter und Verdienste bis zu einem sehr hohen Grade, letzten Endes durch die Steuer, nivelliert sind, verringert den Auftrieb, hemmt — bis zu einem gewissen Grade, von dem gleich gesprochen werden soll — die Erzeugung. Von den vier Triebfedern menschlichen Strebens: Hunger, Ehrgeiz, Liebe und Glaube, wird der ersten und dem materiellen Teil der zweiten viel Spannung genommen. Dagegen sind die des sozialen Ehrgeizes und des Glaubens stärker, gespannt. Faularbeit gibt es weder im Kibutz noch in der Kooperative, obwohl dem Arbeiter die Frucht seiner Arbeit nur teilweise und indirekt, im langsamen Aufstieg seiner Lebenshaltung, zugute kommt.

So wird eine Gleichmäßigkeit der sozialen Schichtung erzeugt: Israel ist das klassenloseste Land. Das ist ein Symptom echter Demokratie, denn junge Diktaturen erzeugen schärfere Klassenunterschiede als jede alte Gesellschaft kennt. Das hemmt die Produktion, aber es vermeidet auch das Gefühl, Opfer und Gefahren für eine andere Klasse auf sich zu nehmen. Da das Leben in Israel voll Opfer und Gefahren ist, wird so der einheitliche Verteidigungswille gestärkt. Zur Erzeugung dieser Einheitlichkeit gehört auch Toleranz. Juden der verschiedensten Richtungen, Mohammedaner und Christen —• alle die verschiedenen Völkerstämme erfreuen sich vollkommener Gleichberechtigung, müssen aber auch selber Toleranz üben. Moscheen, Kirchen und Synagogen werden mit dem gleichen Eifer und Aufwand instand gehalten und renoviert. Braune indische, schwarze abessinische, dunkle jemenetische, blonde russische, australische und deutsche Kinder und Menschen jeden Alters arbeiten zusammen, spielen zusammen, erholen sich zusammen, diskutieren und streiten zusammen. Keinem fällt es ein, einen anderen weg(?n seiner Farbe oder seiner Bräuche anzustaunen oder herabzusetzen.

In der Not bildet sich jeder Organismus die Organe, die er braucht. Israel braucht vor allem Schutz, weil es von Feinden umgeben ist, und Steigerung der Ertragsfähigkeit seines minimalen Bodens, weil es seine Bevölkerungszahl nicht begrenzt. Daher werden seine Einwohner vor allem Soldaten und Bauern. Zur Verteidigung ist aber Einheitlichkeit wichtiger als der Drang zum Aufstieg. Daher begnügt es sich in seiner heutigen Lage mit einer klassenlosen Gesellschaft.

Wird ihm eine friedliche Entwicklung beschert, so wird sich diese Lage ändern. Ob sich dann die Organe ebenso rasch wandeln werden, wie sie sich unter dem Druck der Not bildeten, bleibt abzuwarten. Es kann sein, daß die Einrichtungen der Not sich so tief wurzeln, daß sie nach Aufhören des Druckes den Fortschritt hemmen. Es kann aber auch sein, daß ein junges Volk ohne Tradition sich die Elastizität bewahrt, seine Organe so rasch umzustellen wie es die Aenderung der Verhältnisse er fordert.

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