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Die Flucht ins XX. Jahrhundert

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Der Bauer, der den langsamen Schritt seiner in das Joch gespannten Ochsen mit der Rute anspornt, empfindet dumpf, daß er nicht mehr ganz auf der Höhe seiner Zeit ist. Und er leidet darunter. Wogegen der Bauernbursche, der schon das vibrierende Lenkrad eines Traktors meistert, nicht mehr so stark den lockenden Reiz der Fabrik verspürt, der Zehntausende in die Stadt gezogen hat; stolz blickt er wieder auf jeden Städter herab, denn vielseitiger und befriedigender als seine Arbeit auf dem Land ist nicht bald eine andere, auf keinen Fall eine, die er als Bauernsohn, ungelernt, in der Stadt finden könnte.

Immer noch dauert die „innere Auswanderung“ an, von der ganz Europa betroffen ist; die ersten Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951 bestätigen dies auch für Österreich. Die Landflucht ist das Leitmotiv zahlloser Reden, Artikel, Beratungen, Ausschüsse, Tagungen; die Landflucht bereitet heute unserer Landwirtschaft schwere Sorgen. Es fehlen uns rund 40.000 landwirtschaftliche Arbeitskräfte, stellte kürzlich ein Abgeordneter im Nationalrat fest; bei anderen Gelegenheiten war von 60.000 die Rede. „Die Landflucht entzieht der Landwirtschaft jährlich 20.000 bis 30.000 Arbeitskräfte“ (das würde eine tägliche Abwanderung von 54 bis 82 Personen bedeuten), „wenn die Landflucht weiterhin in diesem Ausmaß anhält, wird es in zehn Jahren in Österreich keine Landarbeiter mehr geben“, heißt es in einer Eingabe des Landarbeitertages an den Bundeskanzler. Wer diesen Schätzungen skeptisch gegenübersteht, den belehrt der letzte Arbeitsmarktbericht des Statistischen Zentralamtes: 13.486 offenen Stellen standen 1150 voll vermittlungsfähige landwirtschaftliche Arbeitskräfte gegenüber, die Nachfrage war also bloß zu einem Zwölftel gedeckt.

Durch unmittelbare „gesetzliche Maßnahmen“, wie sie zeitweise gefordert werden, etwa eine Arbeitsplatzwechselverordnung oder eine Bindung aller Burschen vom Land an die Scholle, geschweige denn durch zwangsweisen Einsatz von Stadtbewohnern in der Landwirtschaft, wird man der Landflucht, wenigstens bei uns, nie Herr werden. Sie ist die Flucht vor einer zu gering eingeschätzten Leistung, vor überalterten Formen, vor eine.- Landwirtschaft ohne weiten Horizont, ohne Hoffnungen. Die Vorzüge und die Schönheiten des Landlebens wie ein Vergil feiern, wird Literatur bleiben und dem Landwirt den Stolz und das Selbstbewußtsein, das ihn einst erfüllte, nicht wiedergeben. Aber ihm die letzten Errungenschaften der Biologie, der organischen Chemie, der Elektrizität überantworten — das erst heißt, ihm, mit der Technik des zwan-

zigsten Jahrhunderts, den Sinn dei irdischen Berufung wieder näherzubringen: die Erde zu beherrschen und sich Untertan zu machen.

Ein Bauer, der Vater einer vielköpfigen Familie ist und es seinen Kindern verwehrt, den Hof zu verlassen, weil er eben ein guter Bauer sein will, könnte leicht ein schlechter Vater sein. — Der Mann rechnet auf seine Frau. Die junge Bäuerin leistet zu einer Zeit, da sie ohne Hilfe ist und von ihrer Mutterschaft in Anspruch genommen wird, schwerste Landarbeit. In düsteren, schmutzigen Ställen plagen sich da die Frauen ab. Muß man von den Behausungen sprechen? Es gibt Gegenden, wo sie seit Jahrhunderten gleich geblieben sind: Mauerwerk, Raumverteilung, Einrichtung. Trotz aller Anstrengungen bleibt doch alles mangelhaft und menschenunwürdig von den primitivsten hygienischen Erfordernissen bis ins intimste Familienleben, bis in jenen Bereich des Alleinseins, der jedem menschlichen Bewußtsein unentbehrlich ist. Von früh bis spät von unrationellen und unproduktiven Verrichtungen gehetzt, hat die Bäuerin mit 35 Jahren alle Frische, alle Anmut verloren und ist vom Leben erschöpft und verbraucht. Wenn sich ihr Frauentum doch wenigstens in der Erziehung ihrer Kinder entfalten könnte! Aber ihre quälendste Sorge ist, daß Tiere und Menschen einigermaßen gesättigt einschlafen.

Dagegen ist etwa die Lebenshaltung einer ländlichen Familie in Schweden oder Amerika genau auf der gleichen Höhe wie die einer gut situierten Familie in der Stadt. Das Wohnhaus einer modernen bäuerlichen Einzelwirtschaft verfügt über den gleichen Komfort, dieselbe Bequemlichkeit und Behaglichkeit wie die Villa eines Ingenieurs. Die Hausfrau erledigt spielend in einer Stunde, womit sich die Bäuerin bei uns vier Stunden lang abplagen muß.

In Österreich aber gibt es, wie im Nationalrat wiederholt festgestellt wurde, auf dem Land eine ebenso große Wohnungsnot wie in den Städten, von der am härtesten die Landarbeiter betroffen sind. Wie viele von den rund 300.000 österreichischen Landarbeitern verfügen über eine menschenwürdige Behausung oder wenigstens über die Aussicht, einmal eine Familie gründen und für diese ein eigenes, wenn auch bescheidenes Heim aufbauen zu können? Am Tisch ihres Brotherrn zu sitzen, kann ihnen den eigenen Hausstand nicht ersetzen. Das Leben eines Menschen ruht auf geistigen und seelischen Werten: was dem Werktätigen ans Herz greift, ist seine Familie und sein Heim. Zu viele Mägde und Knechte bleiben zeitlebens zur Ehelosigkeit verurteilt; die hohe Zahl

der unehelichen Geburten, die in gewissen ländlichen Gegenden 50 Prozent weit übersteigen, sprechen eine deutliche Sprache. Oft hausen sie in Ställen oder halbverfallenen Schuppen, nicht selten in Promiskuität; die Ställe für das Vieh werden neu gedeckt, während es in die Schlafstätten der Menschen hineinregnet, da es sich .nicht rentiert“, da etwas zu investieren. Sie müssen noch froh sein, über die Wintermonate hier bleiben zu dürfen und die allernotwendigsten Lebensmitte) zu erhalten. Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten gibt es nicht. D i e Stelle eines unqualifizierten Hilfsarbeiters in der Stadt bedeutet für diese Menschen einen Aufstieg und eine gewisse soziale Sicherung, da sie als Landarbeiter nicht einmal auf Arbeitslosenunterstützung Anspruch erheben können. Es ist eine Flucht ins 20. Jahrhundert.

Die Landflucht ist ein Symptom, ein Signal dafür, daß sich eine gewaltige Entwicklung vollzieht. Die Landwirte von heute befinden sich, trotz allem, in einer günstigeren Situation als die Arbeiter des vergangenen Jahrhunderts, die die industrielle Revolution erlitten haben wie den Einbruch einer blinden Naturkraft. Die Umwälzung in der Landwirtschaft findet Menschen vor, die in ihrer Gesamtheit ungleich entwickelter sind, als es das Industrieproletariat von 1830 oder sogar von 1848 war, gereift in 50 Jahren entfalteten Genossenschaftswesens und reich an vielfältiger fachlicher Erfahrung. Es kommt darauf an, daß die Pioniere und mit ihnen die Gesamtheit der Landwirte entschlossen und bewußt den Weg beschreiten, der sich vor ihnen eröffnet: statt die Entwicklung, die unaufhaltsam ist, zu erleiden: vielmehr an ihre Spitze zu treten und aus eigener gemeinsamer Kraft dafür zu sorgen, daß die technische Entwicklung einen menschlichen Aufstieg mit sich bringt.

Seinen Boden besitzen, seine Werkzeuge, sich selbst genügen, das ist tausendjährige bäuerliche Tradition. Arbeiten und dabei möglichst alles das produzieren, wessen er selbst bedurfte, darin fühlte sich der Bauer gesichert. Sein Güteraustausch war gering, und es genügte, wenn er in der Lage war, das Unentbehrlichste, das er nicht selbst herstellte, zu besorgen. Die Autarkie war sein Ideal. Ein stolzes Gefühl der Stärke und Unabhängigkeit erfüllte ihn. Er war derjenige, der am wenigsten die anderen brauchte. Ohne die hohen Lebenswerte, die Sündhaftigkeit und die traditionellen Tugenden zu verkennen, die dieser Struktur entsprangen, ist es doch offensichtlich, daß die wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit weithin einen scheuen und mißtrauischen Individualismus begünstigt hat, der die notwendigen Entwicklungen heute am meisten hemmt, da der Bauer nicht mehr in seiner geschlossenen Welt weiter verharren kann.

Der Landwirt von heute ist mit den Bedürfnissen und Interessen der ganzen Welt verflochten; vor allem mit der Industrfe, die er ernährt und der er in steigendem Maße Rohstoffe liefert, um dagegen Maschinen zu erhalten, chemische Produkte, Einrichtungsgegenstände, Haushaltsartikel, Gegenstände für seinen Komfort und seine Zerstreuung: Bücher, Radioapparate, Jagdgewehre usw. Er muß Treibstoffe, Ersatzteile kaufen, er kann den Monteur nicht entbehren. Er braucht den Agrobiologen, der seine Erde chemisch untersucht und seine Düngemittel kontrolliert; den Geometer, der den Boden trockenlegt oder bewässert; den Agronomen, der das richtige Saatgut für seinen Boden und sein Klima aussucht; den Tierarzt, den Pflanzenbiologen, den Schädlingsbekämpfer usw. Die Welt der Gelehrten und Forscher wird ihm näherrücken, die aus seinen Erfahrungen lernen wollen, um ihm dafür neue Geheimnisse der Natur zu entdecken.

Früher dachte man, daß das schwerfälligste Kind einer Familie für die Landwirtschaft gerade gut genug sei, während man die aufgeschlosseneren in die Stadt schickte. Wenn man aber alles überblickte, was ein Landwirt beherrschen muß, um eine Landwirtschaft intensiv betreiben und aus jedem technischen Fortschritt Nutzen ziehen zu können, so scheint der Begabteste, der mit

dem offensten Geist, der die Beziehungen der Dinge am besten zu umfassen, der Wissen, Intuition und Initiative entschlußfreudig zu vereinigen vermag, d a-zuberufen zu sein, Bauer zu werden. Es sind die gleichen Qualitäten, über die in entsprechendem Maße jene verfügen sollen, die an seiner Arbeit teilhaben und zu seinen mitverantwortenden Mitarbeitern werden müssen. Mehr als andere den Fährnissen der Natur ausgesetzt, die unsere Not und unsere Größe ausmachen, ständig von diesem Kampf beansprucht, den Geist durch die wechselnden Probleme geschärft, den Körper durch das Leben unter freiem Himmel gestählt, wird der Landwirt von morgen einen überlegenen Menschentyp bilden, einen bewußten Träger der Hoffnung auf eine bessere Weit.

Je weiter die Zeit fortschreitet, um so stärker werden alle, seien es einzelne Landwirte, ganze Dörfer oder Länder, die den Erfordernissen der Entwicklung nicht nachkommen, im wirtschaftlichen Wettkampf ausgeschaltet werden. D i e österreichische Landwirtschaft hat alle Möglichkeiten, diesen Wettkampf, zunächst im europäischen Rahmen, der sich bereits abzeichnet, ehrenvoll, zu bestehen. Tendenzen zur Bildung amerikanischer Großfarmen oder russischen Kolchosen scheitern bei uns allerdings schon an der österreichischen Landschaft und Natur. Trotzdem hat es der österreichische Bauer bereits fertiggebracht, aus unserem seit Jahrhunderten bewirtschafteten Boden im Durchschnitt 13,5 Zentner Weizen herauszuholen, während der auf zum Teil noch fast jungfräulichem Boden arbeitende amerikanische oder kanadische Farmer nur 7,5 Zentner produziert. Die österreichische Landwirtschaft erzeugt heute schon 98 Prozent unseres Erdäpfel-

bedarfes, 77 Prozent des Roggen- und 75 Prozent des Weizenbedarfes. Die Zahl der von ihr verwendeten Traktoren ist von 1937 bis 1949 von 234 auf 14.624 gestiegen. Als voriges Jahr auf den nieder-österreichischen Feldern die ersten Mähdrescher modernster Bauart, furchterweckende stählerne Drachen, auftauchten, bewältigten die Bauern, als hätten es schon ihre Urahnen getan, sieben bis acht Hektar im Tag, doppelt soviel als mit den bisher verwendeten veralteten Maschinen. Ein Netz von landwirtschaftlichen Volksbildungsinstituten und bäuerlichen Fachschulen (in Niederösterreich allein vier: Ober-Siebenbrunn, Weigels-dorf, Tullnerbach, Retz), sowie das 1949 beschlossene Landarbeitsgesetz, das die Landarbeit auf den Rang einer Facharbeit hebt, sorgen für die gründliche Berufsausbildung der Landwirte. Es ist zu hoffen, daß künftig vom Studium an der Tierärztlichen Hochschule und der- Hoch-

schule für Bodenkultur nicht mehr wird abgeraten werden müssen, sondern daß es eine Förderung erfahren wird.

Manches ist schon geleistet, viele gesunde Ansätze sind weiter zu entwickeln, schwere Fragen harren ihrer Bewältigung. Geleitet von dem Gedanken an das Gemeinwohl, von dem Gedanken, daß über der Wirtschaft der Mensch stehen muß, wird der Landwirt auch die Frage der Landflucht lösen können, sei es, wenn auf neuen, noch unbegangenen Wegen. Denn wenn sich der Vorkämpfer für das Neue oft irrt, immer täuscht sich der Verteidiger des Alten, wenn er vergängliche und veraltete Formen um jeden Preis erhalten will.

Das, was für die neue Welt bewahrt werden muß, das sind nicht die alten Formen, sondern die ewigen Werte. Und diese können wieder einmal, wie schon so oft, in neuen Formen Wirklichkeit werden.

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