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Von der Heimatsuche in Deutschland

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Langsam staut nun der Strom der gehetzten, todmüden Menschen, die mit ihrem Hab und Gut, mit Gesundheit und oft mit dem Leben die Zeche jener zu begleichen haben, die ihre, Herrschaft auf ungemessenen Ver-brechen an der Menschheit und ihrer sittlichen Ordnung aufzubauen versuchten. Eine Wanderung durch Süddeutschland läßt heute eine gewisse, wenn auch nicht vollständige Übersicht zu.

Viele von den aus allen Nachbarländern zusammengeströmten Deutschen befinden sich nun schon über ein Jahr lang in ihrer neuen Heimat und haben eine ihren Kenntnissen entsprechende Arbeit gefunden, die ihnen Hoffnung läßt, sich wieder ein eigenes Heim zu schaffen und als Menschen zu leben. Aber die Menschenmassen, die in Bewegung gesetzt wurden, waren so riesige, daß die „Vielen“ noch wie wenige erscheinen. Die große Mehrzahl der Exulanten, die noch nicht ausreichend statistisch erfaßt sind, vegetiert nach wie vor in Lagern, Gasthaus- und Tanzsälen oder Schulgebäuden, weil eine andere Unterbringung trotz aller Anstrengungen unmöglich ist. Dabei ist anzuerkennen, daß die alliierten Stellen an die Lösung dieser Kardinalfrage Deutschlands mit viel Energie herangegangen sind und die deutsche Verwaltung die praktische Durchführung der Herkulesarbeit mit Geschick und restloser Hingabe besorgte. Aber wo ist eine Verwaltung vor ein derartiges Völkerwanderungsproblem schon gestellt worden? Die Aussiedlung der Armenier aus der Türkei nach dem ersten Weltkrieg kann nicht zum Vergleich herangezogen werden, denn sie war zahlenmäßig nicht so umfangreich und vollzog sich nach schwachbesiedelten Gebieten, zudem hatten die Ausgesiedelten sehr oft ihr Vermögen und sogar bedeutende Reichtümer retten können.

Flüchtlingskommissäre walten überall ihres Amtes, unterstützt von den zivilen Behörden und den Militärregierungen. Ihre Arbeit ist die unbedankteste und bitterste, die es heute in einem besiegten Lande geben kann. De Erfüllung ihrer Obliegenheiten machte es nötig, ohne Rücksichten in das Wohnungswesen und Familienleben der eigenen Landsleute, oft ihrer Blutsverwandten einzugreifen. Anfangs war es noch leichter, den benötigten Raum für die Neuankömmlinge zu finden, dann aber — als immer größere Massen dieser Unglücklichen sich in die Städte und Dörfer wälzten, begann sich der Egoismus zu regen. So verständlich der Wunsch der Alteingesessenen war, möglichst rasch wieder zu gewohnten Verhältnissen zurückzukehren, so verhängnisvoll mußte sich die Verkennung der nackten, freilich sehr harten Tatsachen, die durch den Ausgang des Krieges diktiert sind, in der neuen Gemeinschaft geltend machen. Die mißmutige Stimmung der ein-heimisdien Bevölkerung, die sich nach furchtbaren Erlebnissen in eine neue Heimat gerettet glaubte, rief nur zu bald bei den Neuangekommenen Verbitterung hervor. Es gab unberechtigte, aber auch berechtigte Klagen. Der Krieg verhärtet die Herzen, er hat viele böse Instinkte wachsen und wuchern lassen. So konnte es geschehen, daß häßliche Fälle der Ausbeutung an Flüchtlingen sich ereigneten und daß zum Beispiel das Betreuungspersonal eines sehr primitiv untergebrachten Altersheimes für Flüchtlinge in Karlsruhe von den zugeteilten Lebensmitteln herrlich und in Freuden auf Kosten der alten Leute lebte.

Ein Fall, der sich vor einigen Wochen im Berchtesgadener Land zugetragen hat, kennzeichnet die ganze Tragik der Vertriebenen. Einen halben Tag lang mußte eine Flüchtlingsfamilie mit sechs Kindern vor dem zum Wohnen zugewiesenen und ihnen verschlossenen Bauernhof im Regen warten, bis die Gendarmerie mit Gewalt die Öffnung erzwang. Aber es war schon zu spät: die Matter der unglücklichen Familie hatte in ihrer Verzweiflung Hand an sich gelegt. Die Behörden sahen sich veranlaßt, ein Exempel zw statuieren, enteigneten den Bauer und reihten ihn selbst in einen Flüchtlingstransport nach dem Flachland ein. Sein Hof wurde den Angehörigen der Toten übertragen. Solche Episoden ereigneten sich in verschiedenen Varianten. Die Differenzierung zwischen „Alten“ und „Neuen“, der eingesessenen Bevölkerung und den Ankömmlingen, war manchenorts so weit fortgeschritten, daß sich landsmannschaftliche Vereinigungen und Flüchtlingsparteien zu bilden begannen, die naturgemäß einen fast revolutionären Charakter trugen und von der USA-Militärregierung verboten werden mußten.

Die Zusammenballung der Flüchtlingsmassen in Lagern, das Zusammenleben von mehreren Familien in einem Raum, die herrschende Arbeitslosigkeit und die unvorstellbare Armut haben wahrhaft katastrophale Folgen gezeitigt. Die Erbärmlichkeit des jahrelangen Lagerlebens hat selbst starke Charaktere gebrochen und willenlos gemacht. Die Scham ist gewichen und wie eine schleichende Pest verbreiten sich Laster und Familienzerstörung. Vier bayrische Kleinstädte gaben die Zahl ihrer unehelichen Gebarten mit über 50 Prozent an. Der hohe Stand der venerischen Erkrankungen ist erschreckend in einem Lande, wie Bayern, dessen Bevölkerung sich vor dem Kriege auf ihre sittliche und physische Gesundheit berufen konnte.

Bereitete die Unterbringung der Flüchtfinge schon größte Schwierigkeiten, so ist für die übergroße Mehrzahl die Einschaltung in da Wirtschaftsleben überhaupt noch ungelöst. Eine erhebliche Zahl der Bauern aus den Ostgebieten konnte wohl als Landarbeiter Verwendung finden. Wohl wird an Plänen für eine Bodenreform gearbeitet, aber es ist schwer in nunmehr so übervölkerten Gebieten, in denen es keine Latifundien zum Aufteilen gibt, sich viel davon zu versprechen. Schon gar in einem Land mit Zwergwirtschaften, wie zum Beispiel Großhessen, w man weder Siedlungsstellen schaffen noch landwirtschaftliche Arbeiter brauchen kann. Das Angebot an landwirtschaftlichen Kräften wird in Süddeutschland noch durch Intellektuelle vermehrt für die keine Beschäftigungsmöglichkeit in ihren Berufen besteht. Nur ein halbes Prozent aus den Intelligenzberufen hat in Bayern die gleiche Beschäftigung, wie in der alten Heimat gefunden. Viele Lehrer und jüngere Beamte haben ab Knechte ihr Unterkommen gesucht, aber nicht immer Erfolg gehabt. Die anderen sind weniger glücklich und leben mit der gewährten, begreiflicherweise spärlichen Unterstützung. Ein ehemaliger oberschlesi-seher Industriedirektor, der mit seiner fünfköpfigen Familie 105 RM monatlich Beihilfe erhält, wovon er 15 Mark für Quartier zu bezahlen hat — wie mag er wohl wohnen? —, gibt eine Vorstellung von der Armut, in der sich sehr viele befinden. Besser als in Süd- und dem westlichen Mitteldeutschland sind die Bedingungen in der russischen Zone, die wirtschaftlich ziemlich ausgeglichen ist und in der die Enteignungen großer Rittergutsbesitze eine bedeutende Anzahl landloser Bauern unterbringen läßt.

Ist der Industrie ist die Lage für die Zu-wanderer nicht erfreulicher. Ein großer Teil der Kohlenproduktion Westdeutschlands geht ins Ausland. Was Deutschland verbleibt, reicht nicht zum Betrieb der schwer mitgenommenen britischen Zone aus. In der USA-Zone aber, wo die Zuteilungen noch geringer sind, kann die Kapazität der Industrie nicht ausgenützt werden, so daß die Zahl der Beschäftigten unter dem normalen Niveau liegt. So bleibt die Frage offen, wo denn eigentlich die Excel anten eingesetzt werden sollen, wenn nicht in diesen beiden Zweigen. Es kann nicht wundernehmen, daß in diesem schrecklichen Dilemma, in dem sich viele Tausende seit Monaten befinden, die Zahl derer, die verzweifeln, immer mehr ansteigt.

Es ist ein an Körper und Geist gebrochenes Volk, das da an die Gestade Deutschlands gespült wurde. Die letzten Hoffnungen dieser Menschen sind ob der Trostlosigkeit ihres Daseins in ein Nichts zerronnen, ihr Arbeitseifer gelähmt, viele mögen noch auf ein Wunder warten. Alle träumen sie noch von ihren alten Häusern, ihren Feldern und Gärten und ihren Tieren, die sie zurücklassen mußten. Deutschland wird, wie die Aufrechten unter ihnen glauben, für sie mir eine Etappe auf ihrer Wanderung sein. Auf diesem langen Wege versiegen kostbare Kräfte eines Volkes.

Gibt es in dieser dunklen Szenerie keine freundlich erhefllte Stelle? Gerade weil das Unheil so groß ist und die zu überwindenden materiellen und seelischen Bedrängnisse so überstark sind, soll der Menschlichkeit gedacht werden, mit der Funktionäre der alliierten Behörden dem Elend entgegenzuwirken suchen, verdient Bewunderung die unter härtesten Bedingungen geleistete Pflichterfüllung vieler Beamten und kann nur mit Ehrfurcht der nimmermüden Arbeit der christlichen Charitas und eines ausgezeichneten Klerus gedacht werden, der nach Kräften helfend und tröstend unter der heimgesuchten Menschheit steht. Wären diese heroisch Pflichttreuen und Tapferen nicht, so müßte man von bebender Furcht befallen werden, welche finsteren Geschicke noch aus diesen Übeln hervorbrechen mögen.

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